BAG, Urteil vom 24.3.2004
Aktenzeichen 5 AZR 303/03

Stichpunkte

Arbeitsgerichtsverfahren um Lohnforderungen; Ausführungen zur Sittenwidrigkeit von Lohnvereinbarungen und der Prüfung eines auffälligen Missverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und Lohn; Besonderheiten im Wirtschaftszweig Zeitarbeit; Ausführungen zum "Equal Pay".

Zusammenfassung

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) weist die Revision des Klägers gegen ein Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin zurück. Der Kläger hatte vor dem LAG unter anderem wegen Sittenwidrigkeit der Lohnvereinbarung erfolglos Lohnnachzahlung begehrt.

Der Kläger war von Dezember 2000 bis August 2001 als Hilfskraft bei der Beklagten, einer Leiharbeitsfirma, beschäftigt. Diese hatte mit den zuständigen Gewerkschaften einen Haustarifvertrag geschlossen, der vom Arbeitsvertrag des Klägers einbezogen wurde. Laut Vertrag betrug der Stundenlohn des Klägers 10,89 DM. Entliehen wurde er an Betriebe einer Branche, in der der durchschnittliche Bruttolohn im fraglichen Zeitraum bei 23,35 DM lag. Der Kläger sah hierin ein auffälliges Missverhältnis und hielt die Lohnvereinbarung deswegen für sittenwidrig. Die Sittenwidrigkeit ergebe sich auch aus einem Verstoß gegen das Abstandsgebot zur Sozialhilfe, da sein Nettolohn 828,44 Euro betrage, während sein Sozialhilfeanspruch bei 834,05 Euro läge. Letztlich verstoße die Lohnvereinbarung auch gegen Artikel 4 der Europäischen Sozialcharta (ESC). Diesem zufolge sollen ausreichende Löhne gewährt werden, die laut einem Sachverständigenausschuss 68 Prozent des national durchschnittlichen Bruttolohns nicht unterschreiten dürfen. Die Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen.

Das Bundesarbeitsgericht macht Ausführungen dazu, wie ein auffälliges Missverhältnis zu prüfen ist. Ein auffälliges Missverhältnis ist Voraussetzung sowohl für den zivil- als auch für den strafrechtlichen Lohnwucher. Hierbei ist der vereinbarte Lohn der geleisteten Arbeit gegenüberzustellen. Bezug zu nehmen  ist auf den objektiven Wert der Arbeitsleistung, der anhand des Tariflohns des jeweiligen Wirtschaftszweiges der Region zu ermitteln ist, denn so viel wird ein Arbeitgeber grundsätzlich für die Arbeit bezahlen müssen. Nur wenn in der Branche oder Region üblicherweise weniger gezahlt wird, ist vom allgemeinen Lohnniveau im Wirtschaftsgebiet auszugehen.

Das Gericht betont, dass zur Ermittlung eines Missverhältnisses nicht auf einen bestimmten Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfesatz abgestellt werden kann, da der Sozialhilfesatz an eine konkrete Bedürfnislage (Unterhaltsverpflichtungen, Miete etc.) anknüpft und somit keine Aussagekraft über den Wert der Arbeitsleistung hat.

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts enthält bis zu diesem Zeitpunkt keinen konkreten Richtwert, wann ein auffälliges Missverhältnis gegeben ist. Im Rahmen einer strafrechtlichen Beurteilung von Lohnwucher war der Bundesgerichtshof (BGH) 1997 bei einem Lohn, der weniger als zwei Drittel des Tariflohns betrug, von einem auffälligen Missverhältnis ausgegangen (siehe das Urteil des BGH vom 22.04.1997, Aktenzeichen 1 StR 701/96). Arbeitsgerichte und Dokumente hatten sich dem angeschlossen.

Das Bundesarbeitsgericht nahm hierzu in diesem Fall keine Stellung, da es eine Sittenwidrigkeit schon deshalb nicht gegeben sah,  der vereinbarte Lohn dem Tariflohn des Haustarifvertrages der Beklagten entsprach. Auch dieser Haustarif war nach Ansicht des Gerichts nicht sittenwidrig, da ein frei vereinbarter Tariflohn nur dann als sittenwidrig eingestuft werden könne, wenn er sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles als "Hungerlohn" darstellt.

Als Vergleichsmaßstab für den Wert der Arbeitsleistung des Klägers war der Tariflohn der Leiharbeitsfirma zugrunde zu legen und nicht wie vom Kläger angenommen der des Entleihers, da der Kläger bei der Beklagten und somit im Wirtschaftszweig Zeitarbeit beschäftigt war. In diesem Zusammenhang macht das Gericht Ausführungen zu den Besonderheiten der Branche Zeitarbeit, die aufgrund der speziellen Anforderungen an Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wie an Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen besondere tarifliche Entgeltregelungen rechtfertigen. Gestützt sieht es diese Auffassung durch § 3 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, der zwar grundsätzlich "Equal Pay" (gleiche Bezahlung von Leih- und Stammarbeitenden) vorschreibt, jedoch Ausnahmen zulässt.

Auch aus Artikel 4 ESC kann der Kläger keine Ansprüche geltend machen, da sich hieraus keine für einzelne Bürgerinnen und Bürger einklagbaren Individualrechte ableiten.

Insgesamt sieht das Bundesarbeitsgericht hier kein auffälliges Missverhältnis gegeben, sodass die Lohnvereinbarung wirksam war.

Entscheidung im Volltext:

BAG_24_03_2004 (PDF, 62 KB, nicht barrierefrei)

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