BVerwG, Beschluss vom 20.8.2018
Aktenzeichen 1 B 18.18

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im Asylverfahren um Abschiebung in anderes Mitgliedsland; Bundesverwaltungsgericht bestätigt Abschiebeverbot nach Bulgarien; Umfassende Ausführungen mit Verweisen auf weitere Rechtsprechung zu Kriterien für Verstoß gegen Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention bzw. Grundrechtscharta bei Abschiebungen in Mitgliedstaaten mit systemischen Mängeln im Asylverfahren

Zusammenfassung

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) stellt fest, dass einer Abschiebung von Flüchtlingen in ein anderes Land, in dem sie zuvor Flüchtlingsanerkennung erhalten haben, ein Abschiebeverbot entgegensteht, wenn die Situation dort gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. Das BVerwG weist die Beschwerde des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen die Nichtzulassung der Revision durch das niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zurück. Das BAMF hatte die Asylanträge einer syrischen Familie als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Bulgarien angedroht, wo sie bereits Flüchtlingsanerkennung erhalten hatten. Das Verwaltungsgericht hatte die Klage der Familie, soweit sie die Feststellung eines Abschiebehindernisses bezogen auf Bulgarien betraf, abgelehnt.

Das daraufhin von der Familie angerufene Oberverwaltungsgericht hatte das Bundesamt jedoch verpflichtet, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Bezug auf Bulgarien bestehe. Eine Revision hat das Oberverwaltungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Bundesamtes.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seinem Beschluss fest, dass die für eine Zulassung der Revision erforderliche grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht vorliege.

Das BAMF hatte seine Beschwerde damit begründet, es bestünde ein Klärungsbedürfnis hinsichtlich des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

Klärungsbedürftig sei zum einen, ab welchem Schweregrad eine auf die allgemeinen Verhältnisse zurückzuführende Situation einer Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat Art 4 der Grundrechtscharta bzw. Art 3 der EMRK entgegenstünde.

Ebenfalls klärungsbedürftig sei, ob eine Gefahr im Sinne der in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG genannten Extremgefahr vorliegen muss.

Das BVerwG führt aus, dass diese vom Bundesamt angeführten Fragen bereits durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend geklärt seien.

Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR seien für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK nur für die Tatbestandsalternativen der Folter und der unmenschlichen Behandlung ein vorsätzliches Handeln erforderlich, nicht aber für die erniedrigende Behandlung. Eine solche sei nicht ausgeschlossen, nur weil sie nicht der Zweck des Handelns war. Auch unbeabsichtigt könne eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegen. Das BVerwG führt weitere entsprechende Rechtsprechung des europäischen Gerichtshof und des Bundesverwaltungsgerichts an, nach der Überstellungen von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Systems gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung verstoßen können, wenn sie in einen Mitgliedstaat überstellt werden, bei dem das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen systemische Mängel aufweisen (s. EuGH 16.02.2017).

Ebenfalls geklärt sei in der Rechtsprechung des EGMR, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohende Gefahr ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um ein Abschiebeverbot nach Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention beziehungsweise Art. 4 der Grundrechtscharta zu begründen.

Unter Verweis auf ein Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Paposhvili/Belgien und des EuGH vom 16. Februar 2017 (s.o.), führt das BVerwG aus, dass bei der Bestimmung des Mindestmaßes an Schwere auf den Einzelfall abzustellen sei, so hänge es z.B. von der Dauer der Behandlung und der daraus erwachsenen Folgen für die Betroffenen, ihrem Geschlecht Alter und Gesundheitszustand ab.

So könnten allein schlechte humanitäre Verhältnisse nur in besonderen Ausnahmefällen ein auf Art. 3 EMRK gestütztes Abschiebeverbot begründen.

Grundsätzlich ließe sich zwar durch Art 3 EMRK keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten ableiten, Flüchtlinge mit Unterkunft und finanzieller Unterstützung zu versorgen. Der EGMR sieht dennoch hinsichtlich der besonders verletzlichen Gruppe der Asylbewerber eine besondere Verantwortung, da sich die EU-Staaten durch die sogenannte `Aufnahmerichtlinie´ (Richtlinie 2013/33/EU) zur Gewährung bestimmter Mindeststandards verpflichtet hätten. Daher könne für Geflüchtete das für Art. 3 EMRK geforderte Mindestmaß an Schwere auch durch schlechte Lebensumstände im Zielland erfüllt sein, da sie in dem ihnen fremden Umfeld völlig von staatlicher Hilfe abhängig seien.

Das BVerwG hebt hervor, dass diese Schutzpflicht auch für bereits in einem anderen Mitgliedsstaat anerkannte Asylbewerber*innen gelte.

Auch der Umstand, dass Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer die tatsächliche Lage in Bulgarien anders beurteilten, führe nicht zu einer anderen Entscheidung, da die richterliche Tatsachenwürdigung nicht der Revision unterliege.

Entscheidung im Volltext:

Bverwg_20_08_2018 (PDF, 4 MB, nicht barrierefrei)

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