VG Würzburg, Urteil vom 28.2.2019
Aktenzeichen W 10 K 18.50469

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im Asylverfahren gegen Dublin-Überstellung einer Nigerianerin nach Italien; Gericht ordnet Zuständigkeit Deutschlands für Asylverfahren einer schwangeren Nigerianerin an; umfassende Darstellung des italienischen Asylverfahrens; Ausführungen zu den Voraussetzungen für die Feststellung systemischer Mängel des Asylverfahrens; Gericht sieht solche in Italien nicht generell, aber (insbesondere nach dem sog. Salvini-Dekret) für die besonders schutzwürdige Gruppe der Schwangeren gegeben

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) hebt den Bescheid des Bundesamtes auf Dublin-Überstellung einer Nigerianerin nach Italien auf und stellt die Zuständigkeit Deutschlands für den Asylantrag fest. Die Klägerin war im September 2018 über Italien nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt. Da sie in einer Befragung angegeben hatte, dass sie vor ihrer Einreise nach Deutschland über zwei Jahre in Italien gelebt hatte, richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Übernahmeersuchen an Italien, das nicht beantwortet wurde. Daraufhin teilte das BAMF der Klägerin mit, Italien sei für den Asylantrag zuständig und ordnete ihre Abschiebung dorthin an. Hiergegen erhob die Frau Klage, auch unter Verweis auf eine bestehende Schwangerschaft.

Das VG stimmt dem BAMF insoweit zu, dass nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung grundsätzlich Italien für den Asylantrag zuständig sei, da die Klägerin bereits dort einen Antrag gestellt hatte. Nach Ansicht des Gerichts steht dieser Zuständigkeit aber die Schwangerschaft der Klägerin entgegen. Überstellungen nach Italien scheiterten wegen systemischer Mängel im Asylsystem für besonders schutzbedürftige Personen im Sinne der Aufnahmerichtlinie, zu denen die Klägerin als Schwangere zu zählen sei und für die Überstellungen ohne entsprechende Zusicherung einer sicheren Unterkunft unzulässig seien.

Das Gericht führt aus, dass das Europäische Asylsystem grundsätzlich getragen ist vom Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, dass die Mitgliedstaaten bei der Behandlung der Asylbewerber*innen den Grundrechten Rechnung tragen. Diese Vermutung könne zwar widerlegt und systemische Mängel festgestellt werden, die Anforderungen an eine solche Widerlegung seien jedoch hoch. Geringfügige Verstöße und nur eine wirtschaftliche oder soziale Schlechterstellung seien nicht ausreichend, sondern es müssten außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe einer Überstellung widersprechen.

Im Hinblick auf das italienische Asylsystem legt das VG dar, dass und warum zum Entscheidungszeitpunkt nicht generell von derart unzureichenden Voraussetzungen, die einen Menschenrechtsverstoß darstellen, auszugehen ist. Das VG stellt unter Heranziehung verschiedener Quellen umfassend den Ablauf des italienischen Asylverfahrens, insbesondere für Dublin-Rückkehrer*innen, einschließlich ihrer finanziellen und gesundheitlichen Versorgung dar.

Bei der Umsetzung in die Praxis bestünden zwar Probleme, diese rechtfertigten jedoch nicht die Annahme von generellen systemischen Mängeln.

Insgesamt sieht das Gericht unter Verweis auf weitere Rechtsprechung für Italien ein trotz bestehender Mängel noch funktionierendes, im Allgemeinen richtlinienkonformes Asyl-und Aufnahmeverfahren mit grundsätzlich hinreichender Unterbringungskapazität.

Für die besonders schutzbedürftige Gruppe der Schwangeren, der die Klägerin angehöre, bestünden jedoch keine ausreichenden, geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten.

Das Gericht führt die sog. Tarakhel Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (4.11.2014) sowie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (29.8.2017) an, nach denen für diesen Personenkreis vor der Abschiebung individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen seinen.

Vor diesem Hintergrund hält das Gericht eine Überstellung ohne entsprechende Zusicherung einer sicheren Unterkunft sowie spezieller Versorgung für unzulässig. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf das sog. Salvini-Dekret, das Gesetz geworden sei und nachdem spezielle Unterkünfte nur noch Minderjährigen und anerkannten Flüchtlingen zustünden.

Da somit die Aufnahmebedingungen für schwangere Frauen in Italien systemische Mängel aufwiesen, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der Grundrechte der Klägerin führe, sei die Zuständigkeit für deren Asylantrag auf das BAMF übergegangen.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_wuerzburg_28_02_2019 (PDF, nicht barrierefrei, 114 KB)

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