VG Gießen, Urteil vom 2.9.2019
Aktenzeichen 1 K 7171/17.GI.A

Stichpunkte

Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Afghanin wegen Zwangsverheiratung; Ausführungen zu Zwangsverheiratung und der Situation betroffener Frauen in Afghanistan; geschlechtsspezifische Verfolgung ist auch die von der Familie zu erwartende Strafe für die Trennung vom Mann

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Klägerin, eine Afghanin, war 2013 mit ihrem Ehemann nach Deutschland eingereist. 2014 hatte sie Asyl beantragt und bei ihrer Anhörung angegeben, von ihrem Bruder, der in Afghanistan eine hohe Position beim Militär habe, mit ihrem Mann zwangsverheiratet worden zu sein. Ihr Mann habe sie dann gezwungen, mit ihm nach Deutschland zu reisen. Er habe auch alle ihre Papiere. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Hiergegen legte sie Klage ein und gab an, bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe ihr Verfolgung, da sie sich inzwischen von ihrem Mann, der auch in Deutschland lebe, getrennt habe und in einem Frauenhaus wohne. Ihre Familie, in der es viele Taliban-Anhänger gebe, würde sie in Afghanistan töten.

Das VG sieht im Falle der Klägerin eine geschlechtsspezifische Verfolgung gegeben.

Es führt aus, warum eine Zwangsverheiratung eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 Asylgesetz (AsylG) darstellt. Der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen stelle eine Menschenrechtsverletzung dar und sei in Deutschland in § 237 Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt. Betroffene würden wie ein Wirtschaftsobjekt behandelt und seien von sexueller und psychischer Gewalt bedroht. Derartige Gewaltfälle würden in Afghanistan in der Regel nicht vor Gericht gebracht, sondern `traditionell gelöst´, indem die Frau zur Wiederherstellung des Familienfriedens zur Rückkehr zu ihrem Mann gezwungen würde.

Die Klägerin gehöre der sozialen Gruppe der Frauen an, die sich einer Zwangsehe entzogen und damit Schande über die Familie gebracht haben, dies umso mehr, als ihr Bruder hochrangiger Militär sei.

Durch die in Afghanistan erfolgte Zwangsheirat läge eine Vorverfolgung der Klägerin vor, die nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt sei. Zwar drohe ihr keine erneute Zwangsverheiratung noch eine Rückkehr in die bestehende Zwangsehe, da ihr Mann in Deutschland lebe, aber auch die von ihrem Bruder zu erwartende Strafe für die Trennung von ihrem Mann, sei als geschlechtsspezifische Verfolgung einzustufen.

Die Klägerin habe auch keinen Schutz durch den Staat oder andere Stellen zu erwarten, da es in Afghanistan weder wirksame Gesetze noch Strafverfolgung gegen Zwangsverheiratung gebe. Auch sei ihr nicht zuzumuten, sich in einem anderen Teil Afghanistans niederzulassen. Das Gericht macht Ausführungen zur Frage, wann `vernünftigerweise erwartet werden kann´, dass Betroffene sich in anderen, verfolgungsfreien Landesteilen niederlassen. Dies setze voraus, dass dort die Existenz gesichert werden kann. Für alleinstehende Frauen wie die Klägerin sei es in Afghanistan so gut wie unmöglich, Arbeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu finden, was erst recht für die 62-jährige Klägerin gelte.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_giessen_02_09_2019 (PDF, 469 KB, PDF, nicht barrierefrei)

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