Verwaltungsstreitverfahren um die Flüchtlingsanerkennung eines nigerianischen Menschenhandelsopfers; umfassende Ausführungen zur Prüfung der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung, zur Einordnung nach Nigeria zurückkehrender Menschenhandelsopfer als "soziale Gruppe" im Sinne des § 60 Aufenthaltsgesetz, zur Situation der Rückkehrerinnen in Nigeria und innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten.
Das Verwaltungsgericht (VG) Wiesbaden stellt in seinem Urteil fest, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Klägerin als Flüchtling anerkennen muss und nicht abschieben darf.
Die Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige und war zunächst in den Niederlanden und dann in Deutschland bei Kontrollen in Bordellen angetroffen worden. Als sie aus Deutschland in die Niederlande abgeschoben werden sollte, stellte sie einen Asylantrag, da sie als Menschenhandelsopfer nach Europa gebracht worden sei. Bei einer Rückkehr nach Nigeria drohe ihr Verfolgung durch Angehörige des Menschenhändlerrings. Die Frau, für die die Klägerin hatte arbeiten müssen, hatte bereits einmal während einer vorübergehenden Abwesenheit der Klägerin über deren Familie auf sie eingewirkt.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sieht zwar aufgrund der Gefahr, dass die Klägerin in Nigeria wieder zur Prostitution gezwungen oder gar getötet werden könnte, ein Verbot der Abschiebung dorthin gegeben, eine weitergehende Asylberechtigung lehnt es dennoch ab. Es läge keine Flüchtlingseigenschaft vor, da die Klägerin nicht als Mitglied einer sozialen Gruppe verfolgt würde.
Das Verwaltungsgericht sieht im Gegensatz zum BAMF die Verfolgungsgefahr wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gegeben. Der Klägerin drohe zwar keine Verfolgung allein aufgrund ihres Geschlechtes, aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der nach Nigeria zurückkehrenden Menschenhandelsopfer. Diese stellen eine nach außen wahrnehmbare und von der Gesellschaft ausgegrenzte Gruppe im Sinne der sogenannten Qualifikationsrichtlinie dar (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes).
Da die Verfolgung nicht vom nigerianischen Staat, sondern den kriminellen Menschenhändlerkreisen ausgeht, hatte das Gericht zu prüfen, ob der Staat den Opfern keinen ausreichenden Schutz gewähren kann. Zwar wurden in Nigeria Maßnahmen gegen Menschenhandel ergriffen, diese sind jedoch nicht hinreichend, wie auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrem Nigeria-Update vom März 2010 feststellte. Menschenhandelsopfer werden als Prostituierte besonders stigmatisiert und von der teils korrupten Polizei nicht geschützt.
Innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten bestehen nicht, da die Klägerin als alleinstehende Frau nicht in den muslimischen Norden ziehen kann und im Süden der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt wäre. Ebenso drohe der Klägerin aufgrund der Armut in Nigeria ein Leben unter dem Existenzminimum.
Das Gericht sah daher die Voraussetzungen für die Asylberechtigung und ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz gegeben.
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