Positive Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Flüchtlingsanerkennung wegen Zwangsheirat; Verheiratung einer 12-13-Jähriger schon nach afghanischem Recht rechtswidrig und unwirksam; Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe der zwangsverheirateten Afghaninnen, die sich im Fluchtland vom Ehemann getrennt haben, begründet Flüchtlingseigenschaft; umfassende Ausführungen zur Situation der (zwangsverheirateten) Frauen und Mädchen in Afghanistan
Das Verwaltungsgericht hebt einen ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf und verpflichtet dieses, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Klägerin ist afghanische Staatsangehörige und war mit ihrem ebenfalls afghanischen Mann und dem gemeinsamen Kind 2015 nach Deutschland gekommen und hatte 2016 Asyl beantragt. Sie war im Alter von 12 oder 13 Jahren verheiratet worden, wobei sie zunächst in ihrer Anhörung angegeben hatte, sie sei mit der Heirat einverstanden gewesen, während sie später in der mündlichen Verhandlung sagte, dies sei eine Zwangsheirat gewesen.
Ihr Mann gab an, sein Vater sei vor sechs Jahren in Afghanistan von den Taliban umgebracht worden, woraufhin er selbst aus dem Dorf in die Stadt gezogen sei. Bei einer Rückkehr würde er getötet. Die Klägerin gab an, von den Verwandten des Getöteten bedroht und vergewaltigt worden zu sein, wovon ihr Mann aber nichts wissen dürfe, da sie Angst vor ihrem Mann habe. Beide Asylanträge wurden abgelehnt und Abschiebung nach Afghanistan angedroht. 2018 trennte die Klägerin sich von dem Mann wegen andauernder häuslicher Gewalt und zog mit dem Sohn in ein Frauenhaus. Sie beruft sich auf geschlechtsspezifische Verfolgung, da ihr bei einer Rückkehr Zwangsehe sowie körperliche und seelische Misshandlung drohe.
Die Klage des Mannes wurde in einem gesonderten Verfahren vor dem VG abgewiesen. Für die Frau sieht das VG einen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung gegeben (S. 7 Rn 31ff).
Die Klägerin sei der sozialen Gruppe der in Afghanistan zwangsverheirateten Frauen, die sich im Fluchtland von ihrem Mann getrennt haben, zuzurechnen. Sie sei in Afghanistan von Verfolgung bedroht. Die Verheiratung der Klägerin im Alter von 12 oder 13 Jahren sei schon nach afghanischem Recht rechtswidrig und unwirksam und stelle damit eine Zwangsheirat dar. Aus diesem Grund hält das Gericht die sich widersprechenden Angaben der Klägerin hinsichtlich ihres Einverständnisses mit der Heirat für unerheblich.
Das Gericht macht umfassende Ausführungen zur Situation der (zwangsverheirateten) Frauen und Mädchen in Afghanistan und bezieht sich dabei auf verschiedene Quellen wie einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes hierzu und auch weitere Rechtsprechung wie u.a. eine Entscheidung des VG Gießen vom 2.9.2019.
Für die Klägerin käme erschwerend hinzu, dass sie sich in Deutschland der Ehe entzogen habe und in ein Frauenhaus gegangen sei. Diese Trennung stelle in Afghanistan eine massive Verletzung der Ehre des Mannes dar und sei mit schwerwiegender Strafe bedroht. Dadurch, dass die Asylanträge ihres Ehemannes und weiterer Familienangehöriger des Mannes abgelehnt worden seien und diese nach Afghanistan ausreisen müssten, sei mit einer Verfolgung durch den Mann oder anderer Familienangehöriger in Afghanistan zu rechnen. Die Klägerin könne sich dem auch nicht durch Ausweichen in andere Landesteile entziehen. Als alleinerziehende Frau habe sie auch keine Möglichkeit den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu erwirtschaften.
Dem Sohn sei im Rahmen des Familienflüchtlingsschutzes gem. § 26 Asylgesetz Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, sobald die Entscheidung über die Anerkennung der Mutter bestands- und rechtskräftig sei.
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