OVG NRW, Urteil vom 20.7.2021
Aktenzeichen 11 A 1689/20A

Stichpunkte

Herausragende Entscheidung im Asylverfahren um Zulässigkeit einer Dublin-Überstellung nach Italien; Verstoß gegen Art. 4 GRC wegen systemischer Mängel im italienischen Asylsystem; umfassende Ausführungen zur Vorgehensweise bei Rücküberstellungen nach und Anspruch auf Unterbringung in Italien; Ausführungen zur Arbeitsmarktsituation

Zusammenfassung

Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG) weist die Berufung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegen ein Urteil des Verwaltungsgericht Minden (VG) zurück. Das VG hatte der Klage eines Maliers gegen seine Dublin-Überstellung nach Italien stattgegeben. Der Mann hatte im August 2018 in Deutschland einen Asylantrag gestellt, der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als unzulässig abgelehnt worden war, da er schon in Italien einen Antrag gestellt hatte, so dass dort das Verfahren zu führen sei. Der Klage des Maliers hiergegen hatte das VG stattgegeben, da dem Kläger in Italien nach Ansicht des VG eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta der Europäischen Union (GRC) drohe. Dublin-Rückkehrer*innen hätten dort in der Regel keinen Anspruch auf Unterbringung, was besonders für die gelte, denen das Recht auf eine Unterkunft entzogen worden sei. Dies träfe auf den Kläger zu, der die ihm zugewiesene Unterkunft verlassen habe. Das VG hatte dazu umfassende Ausführungen zum Umgang mit Dublin-Rückkehrer*innen gemacht.

Ihre Berufung hiergegen begründet die BRD im Wesentlichen damit, dass die Umstände des italienischen Asylverfahrens nicht die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC begründen würden und der Kläger als alleinstehender junger Mann in der Lage sei, sich den Aufnahmebedingungen zu stellen und sich durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Im Übrigen könne er notfalls Rechtsschutz in Anspruch nehmen.

Das OVG widerspricht dem und weist die Berufung zurück. Es sieht die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1a Asylgesetz (AsylG), nach dem ein Asylantrag bei Zuständigkeit eines anderen Staates unzulässig ist, nicht erfüllt. Dem steht nach Ansicht des OVG Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 der Dublin-III-Verordnung entgegen, wonach eine Überstellung nicht erfolgen kann, wenn die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art 4 der GRC in dem als zuständig bestimmten Mitgliedstaat drohe. Das OVG legt unter Hinweis auf die sog. `Jawo-Entscheidung´ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19.03.2019dar, dass aufgrund des allgemeinen Vertrauenssatzes zwischen den Mitgliedstaaten grundsätzlich von einer Behandlung der Geflüchteten im Einklang mit der Grundrechtscharta auszugehen sei. Diese Vermutung sei jedoch widerlegbar, wobei an eine solche Widerlegung hohe Ansprüche zu stellen seien und nicht jeder Grundrechtsverstoß schon einer Überstellung entgegenstünde.

Einer Überstellung stehe Art. 4 GRC dann entgegen, wenn sie aufgrund von Schwachstellen im Asylsystem für die betroffene Person die Gefahr einer erniedrigenden Behandlung mit sich brächte. Dies gälte für jeden Zeitpunkt des Verfahrens und es reiche schon ein kurzer Zeitraum, in dem sich die Betroffenen in extremer materieller Not befänden.

Das OVG legt äußerst detailliert und gestützt auf zahlreiche Berichte die Verfahrensweise bei Rücküberstellungen dar, unter welchen Umständen ein Unterbringungsanspruch im italienischen Aufnahmesystem verloren geht und wie schwierig es ist, wieder einen Zugang zu einer Unterbringung zu erhalten. Es sieht im Falle des Klägers die ernsthafte Gefahr, dass dieser keinen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft erhalte. Bei dem Kläger lägen auch keine besonderen Vulnerabilitätsmerkmale vor, aufgrund derer die italienischen Behörden ihm ausnahmsweise doch eine Unterkunft in einer Einrichtung des italienischen Aufnahmesystems gewähren würden. Außerhalb des Aufnahmesystems sei es kaum möglich, zeitnah eine menschenwürdige Unterkunft zu finden, so dass ihm Obdachlosigkeit drohe.

Das Gericht macht außerdem umfassende Ausführungen zur Arbeitsmarktsituation und warum es dem Kläger nicht möglich sei, eine Erwerbstätigkeit zu finden, um sich selbst zu versorgen.

Eine Revision lässt das OVG nicht zu.

Entscheidung im Volltext:

Ovg_nrw_20_07_2021 (PDF, 241 KB, nicht barrierefrei)

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