VG Düsseldorf, Urteil vom 29.12.2021
Aktenzeichen 12 K3032 / 21. A

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im Asylverfahren um Dublin-Überstellung nach Italien; umfangreiche Erläuterung zu systemischen Mängeln des italienischen Asylsystems und zur Situation Asylsuchender und der Dublin-Rückkehrer*innen; Ausführungen zur Verletzung des Art. 4 GRC; Darstellung der Situation in Italien anerkannter Schutzberechtigter

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) hebt einen ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf und erklärt eine Dublin-Überstellung nach Italien aus mehreren Gründen für unzulässig.

Der nigerianische Kläger hatte 2018 in Deutschland einen Asylantrag gestellt, der im Dublin-Verfahren als unzulässig abgelehnt wurde, da er über Italien eingereist war. Die hiergegen erhobene Klage sowie sein Antrag auf einstweiligen Rechtschutz wurden ebenfalls abgelehnt, der Mann 2019 nach Italien abgeschoben und das Klageverfahren eingestellt. Im Februar 2021 reiste der Kläger erneut nach Deutschland ein und stellte wieder einen Asylantrag. Er machte geltend, seine humanitäre Aufenthaltserlaubnis in Italien sei abgelaufen und er habe dort keine Arbeit gefunden. In Deutschland lebe seine Lebensgefährtin mit der gemeinsamen Tochter, die eine Aufenthaltserlaubnis besitze.

Das Bundesamt lehnte den Antrag erneut als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Hiergegen erhob der Kläger Klage und stellte einen Antrag auf vorläufigen Rechtschutz. Das Gericht verpflichtet das Bundesamt, die Abschiebung bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.

Es erklärt die Ablehnung des Asylantrages wegen Unzulässigkeit als rechtswidrig. Für den Antrag des Klägers sei zwar Italien nach der Dublin III-Verordnung zuständig gewesen, diese Zuständigkeit sei aber wegen Ablaufs der Frist von sechs Monaten nach § 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung auf Deutschland übergegangen.

Auch unabhängig hiervon sei wegen einer Unmöglichkeit der Überstellung nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung von einer Zuständigkeit Deutschlands auszugehen. Die sei der Fall, wenn es mögliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller*innen in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, systemische Mängel aufwiesen, die eine Gefahr der unmenschlichen und unwürdigen Behandlung im Sinne des Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) mit sich brächten.

Das VG stellt unter Bezug auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19.03.2019 (sog. `Jawo-Entscheidung´) die Voraussetzungen hierfür dar.Grundsätzlich sei zwar innerhalb der Europäischen Union die Einhaltung der Anforderungen an das Asylsystem und der Grundrechte durch die Mitgliedstaaten zu vermuten, diese Vermutung sei jedoch nicht unwiderlegbar. Bei einer Rückführung hätten die nationalen Gerichte daher zu prüfen, ob eventuelle Mängel im Asylsystem zu einer Gefährdung der zu überstellenden Person führen könnten. Hierbei müsse der drohenden Grundrechtsverletzung eine gewisse Schwere zukommen. Diese sei gegeben, wenn die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren Entscheidungen in extremer materieller Not ihre elementarsten Grundbedürfnisse nicht erfüllen könne und sich in einem Zustand der Verelendung befände, der mit der Menschenwürde unvereinbar sei. Ein Verstoß gegen Art. 4 GRC sei auch schon gegeben, wenn dies nur einen relativ kurzen Zeitraum beträfe. Ebenso sei Art. 4 GRC in jeder Phase des Asylverfahrens, auch im Überstellungsverfahren, zu beachten.

Im Falle des Klägers sei davon auszugehen, dass dieser als Dublin-Rückkehrer in Italien nicht die für ihn erforderliche Unterstützung erhielte und über einen längeren Zeitraum seine elementarsten Bedürfnisse nicht würde befriedigen können. Das Gericht macht unter Hinweis u.a. auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (OVG) vom 20. Juli 2021 Ausführungen zur Situation von Dublin-Rückkehrer*innen in Italien, insbesondere zu den Schwierigkeiten bzw. der Unmöglichkeit, finanzielle Unterstützung oder eine Arbeit und eine menschenwürdige Unterkunft zu bekommen. Es kommt zu dem Schluss, dass systemische Mängel im Asylsystem i.S.d. Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-Verordnung gegeben seien, die eine Verletzung des Art. 4 GRC bedeuteten.

Weiter stellt das VG fest, eine Überstellung des Klägers sei auch deswegen unzulässig, weil ihm auch im Falle der Zuerkennung internationalen Schutzes nach dem aktuellen Kenntnisstand mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung i.S.d. Art 4 GRC drohe. Nach der Rechtsprechung des EuGH sei Art. 4 GRC in jeder Phase des Asylverfahrens, also auch nach Zuerkennung des Schutzstatus zu beachten. Das Gericht macht Ausführungen zur Situation von Personen mit Schutzstatus in Italien. Diese erhielten in der Regel keine Unterstützung. Sie seien Einheimischen formell gleichgestellt und es werde erwartet, dass sie sich selbst versorgten. Der Kläger sei für diesen Fall von Obdachlosigkeit bedroht.

Darüber hinaus sah das VG ebenfalls ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot darin, dass der Kläger Vater eines in Deutschland lebenden Kindes sei, dessen Mutter eine Aufenthaltserlaubnis habe und mit der er zusammen das Sorgerecht ausübe.

 

Entscheidung im Volltext:

Vg_duesseldorf_29_12_2021 (PDF, 13 KB, nicht barrierefrei)

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