LSG Hessen, Beschluss vom 21.8.2020
Aktenzeichen L 6 AS 383 / 20 B

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz auf Gewährung von Sozialleistungen für bulgarische Prostituierte nach Corona-bedingtem Verbot der Prostitutionstätigkeit; kein Eingreifen des Ausschlusstatbestandes nach § 7 des zweiten Sozialgesetzbuchs; Ausführungen zur rechtmäßigen selbstständigen Tätigkeit; zur Unschädlichkeit fehlender gewerbe- und steuerrechtlicher Anmeldung der Straßenprostitution

Zusammenfassung

Das hessische Landessozialgericht (LSG) spricht einer bulgarischen (ehemaligen) Prostituierten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen zu.

Die Frau lebt seit vielen Jahren in Deutschland und hat als selbstständige Prostituierte auf dem Straßenstrich gearbeitet. Bei den Ordnungs- und Steuerbehörden war sie nicht gemeldet, ab 2018 aber nach § 3 des Gesetzes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituierten Schutzgesetz – ProstSchutzG) angemeldet. Vom Ordnungsamt der Stadt Frankfurt am Main hatte sie im November 2018 eine Bescheinigung nach § 5 des ProstSchutzG erhalten. Termine beim Ordnungs- und Gesundheitsamt hat sie regelmäßig wahrgenommen. Eine Sozialversicherungs- oder Steuernummer hatte sie jedoch nicht. In der Stadt, in der sie arbeitete, hatte sie ein möbliertes Zimmer gemietet.

Im März 2020 wurde ihr aufgrund der Corona-Pandemie die Tätigkeit als Prostituierte untersagt. Dadurch verlor sie sämtliche Einnahmen und auch ihre Wohnung, so dass sie in ein Hotel ziehen musste. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie nur durch Zuwendungen eines Vereins, der sie vorher schon in Behördenangelegenheiten unterstützt hatte. Im April stellte sie einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen mit einem Begleitschreiben des Vereins, der bestätigte, die Frau seit Jahren durch die aufsuchende Arbeit auf dem Straßenstrich zu kennen. Das Jobcenter lehnte einen Anspruch der Frau jedoch ab, da sie sich nicht auf ein Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Freizügigkeitsgesetzes (FreizügG/EU) berufen könne. Dies sei nur möglich, wenn die Tätigkeit unter Beachtung der rechtlichen und steuerrechtlichen Regelungen ausgeübt werde. Dies sei bei der Frau nicht der Fall, so dass keine rechtmäßige selbstständige Tätigkeit im Sinne von § 2 FreizügG/EU anzunehmen sei. Die Klägerin stellte daraufhin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, den sie im Wesentlichen damit begründete, ein Leistungsausschluss greife nicht ein, da sie aufgrund ihrer selbstständigen Tätigkeit fortwirkend freizügigkeitsberechtigt sei. Prostitution sei eine erlaubte selbstständige Tätigkeit, die ein Freizügigkeitsrecht vermittele, unabhängig davon, ob sie angemeldet sei oder Steuern gezahlt würden. Die Tätigkeit habe sie unfreiwillig eingestellt. Zum Nachweis ihrer Tätigkeit reichte sie ein Schreiben eines Polizeibeamten ein, der bestätigte, sie regelmäßig bei Kontrollen bei der legalen Prostitution angetroffen zu haben. Gleiches bestätigten die Streetworkerinnen des Vereins für ihre aufsuchende Arbeit. Auch eine Kollegin vom Straßenstrich bestätigte ihre Tätigkeit.

Das Sozialgericht (SG) sprach ihr auf ihren Widerspruch lediglich Überbrückungsgeld gem. § 23 Abs. 3 S. 3 des Zwölften Sozialgesetzbuchs (SGB XII) zu. Ein Aufenthaltsrecht aus selbstständiger Tätigkeit scheide aus. Zur Glaubhaftmachung einer solchen selbstständigen Erwerbstätigkeit reiche es nicht aus, einen Ausweis nach dem Prostituiertenschutzgesetz zu haben. Die Prostitution sei in Deutschland zwar erlaubt, allein die Arbeit als Prostituierte reiche nicht für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit. Eine solche setze eine dauerhafte wirtschaftliche Integration in den Aufnahmestaat voraus. Diese läge bei der Frau nicht vor, da es an einer steuerrechtlichen Anmeldung fehle. Da sie somit höchstens ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche habe, unterfalle sie dem Ausschlusstatbestand nach § 7Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Sozialgesetzbuch SGB II.

Hiergegen erhob die Frau Beschwerde beim LSG. Dieses gibt ihr weitgehend Recht. Das LSG führt aus, warum bei der Frau der Ausschlusstatbestand nicht eingreife. Sie könne sich auf eine Fortwirkung ihrer aus ihrer Prostitutionstätigkeit herrührenden Freizügigkeitsberechtigung berufen. Diese gelte fort, da sie ihre Tätigkeit wegen des behördlichen Verbots unfreiwillig aufgegeben habe. Anders als vom SG und dem Jobcenter angenommen, handele es sich bei der Prostitutionstätigkeit der Frau schon im Hinblick auf das ProstSchutzG sehr wohl um eine selbstständige Tätigkeit im Sinne des Freizügigkeitsrechts. Dies sieht das LSG durch die von der Frau angebrachten Nachweise für glaubhaft gemacht. Problematisch könne aufgrund der Tätigkeit auf dem Straßenstrich höchstens das Erfordernis einer festen Einrichtung im Aufnahmestaat sein. Insoweit sieht das LSG aber, zumindest für das Eilverfahren, für ausreichend an, dass die Frau die Tätigkeit über Jahre in Deutschland ausgeübt und so dauerhaft am Wirtschaftsleben teilgenommen habe.

Gegen eine selbstständige Tätigkeit spräche auch nicht, dass die Frau sich nicht ordnungsrechtlich gemeldet hatte. Insoweit sei ausreichend, dass sie der Anmeldepflicht nach § 3 Abs. 1 ProstSchutzG genügt habe. Eine eigenständige gewerberechtliche Anmeldung sei darüber hinaus nicht erforderlich. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 der Gewerbeordnung sei diese sogar ausdrücklich auf die Prostitutionstätigkeit nicht anwendbar.

Ihre Berufung auf ein europarechtliches Freizügigkeitsrecht werde auch nicht etwa deswegen missbräuchlich, weil sie keine Steuern gezahlt habe. Sie sei in legaler und den Behörden bekannter Weise ihrer Tätigkeit nachgegangen. Insofern komme es auf die Erfüllung der Steuerpflicht nicht an. Zwar unterläge die europarechtliche Freizügigkeit grundsätzlich einem Missbrauchsvorbehalt, es sei jedoch nicht so, dass nur ein vollständig den gesetzlichen Bestimmungen entsprechendes Gewerbe als Tätigkeit im Sinne § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU angesehen werden könne. Davon, dass die Frau nur nach Deutschland eingereist und hier die Prostitution aufgenommen habe, um Sozialleistungen zu beziehen, sei nicht auszugehen.

Das LSG spricht ihr daher einen Leistungsanspruch zu.

Zum Aufenthalt und Leistungen nach Beendigung der Prostitutionstätigkeit s.a.

SG Berlin, Urteil vom 15.06.2022

Entscheidung im Volltext

Hess_lsg_21_08_2020 (PDF, 105 KB, nicht barrierefrei)

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