EuGH, Urteil vom 13.11.2019
Aktenzeichen C-540/17, C-541/17

Stichpunkte

Klarstellende Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; Internationaler Schutz bei einer bereits von einem anderen EU-Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft; keine Ablehnung des Asylantrags, wenn in dem anderen EU-Mitgliedstaat Menschenrechtsverletzungen drohen; unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschluss vom 02.08.2017 – 1 C 2.17) klar, dass ein Antrag auf Internationalen Schutz in Deutschland auch dann zulässig sein kann, wenn ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft bereits zuerkannt hat, die dortigen Lebensverhältnisse für Geflüchtete jedoch menschenrechtswidrig sind.

In dem Verfahren ging es um syrische Staatsangehörige, die bereits in Bulgarien als Flüchtlinge anerkannt worden waren. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen für Geflüchtete in Bulgarien entschieden sie sich, weiter nach Deutschland zu reisen. In Deutschland stellten sie erneut Asylanträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Asylanträge als unzulässig ab und begründete dies mit der bereits erfolgten Anerkennung in Bulgarien. Eine solche Ablehnung als unzulässig ist grundsätzlich in Artikel 33 Abs. 2 Buchstabe a) der EU-Verfahrensrichtlinie, der in Deutschland mit § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgesetzt wurde, vorgesehen, wenn bereits eine Schutzgewährung in einem anderen EU-Mitgliedstaat besteht. Die Betroffenen klagten gegen die Bescheide des BAMF. Der Verwaltungsgerichtshof Kassel (VGH) gab ihnen schließlich Recht und verpflichtete das BAMF, in beiden Fällen ein Asylverfahren einzuleiten (Az. 3 A 1322/16.A). Der VGH war der Auffassung, dass das Asylsystem in Bulgarien hinsichtlich anerkannter Flüchtlinge unter systemischen Mängeln leide und dass unter diesen Umständen § 29 I Nr. 2 AsylG unions- und menschenrechtskonform ausgelegt werden sollte. Deutschland legte gegen diese Entscheidung des VGH Revision beim BVerwG ein, welches die Frage dem EuGH vorlegte.

Der EuGH stellt fest, dass eine solche Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe a) der Verfahrensrichtlinie nicht ausschließlich mit der Begründung erfolgen darf, dass den Antragssteller*innen bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie in diesem Mitgliedstaat Lebensverhältnisse erwarten, die sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. In dem neu aufnehmenden Mitgliedstaat müsse ein erneutes Asylverfahren durchgeführt werden. Damit führt der EuGH seine Rechtsprechung zum Fall Imbrahim (C-297/17 u.a.) und Jawo (C-163/17) fort.

Selbst wenn das nationale Recht Deutschlands in einem solchen Fall den Schutz vor einer Abschiebung in den Schutz gewährenden Mitgliedstaat (hier Bulgarien) vorsehe (der Abschiebungsschutz aus Art. 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz), werden mit dem Abschiebungsverbot nicht die mit einer Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte gewährt. Ein solches Abschiebungsverbot genüge damit nicht zur Lösung des Problems.

Aufgrund der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in der EU gelte die Vermutung, dass in allen Mitgliedstaaten eine grund- und menschenrechtskonforme Behandlung von Schutzsuchenden erfolge. Damit von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgegangen werden kann, müsse die Schwelle der Erheblichkeit des Art. 4 der GRCh erreicht werden. Das gemeinsame europäische Asylsystem müsse in der Praxis in diesem Mitgliedstaat so schwerwiegende Mängel aufweisen, dass Antragstellende tatsächlich der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sind, dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Dies müsse durch die Gerichte geprüft werden, wenn aus den Angaben der Antragstellenden ein entsprechendes Risiko deutlich werde.

Die hohe Schwelle der Erheblichkeit des Art. 4 der GRCh sei dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Solche elementaren Bedürfnisse sind insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden (Fehlen von „Bett, Brot, Seife“). Diese Situation müsse die physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigten oder die schutzberechtigten Personen in einen Zustand der Verelendung versetzten, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle sei selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden seien, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne (vgl. auch EuGH im Fall Ibrahim).

 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_13_11_2019.pdf (PDF, 236 KB, nicht barrierefrei)

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