EuGH, Urteil vom 20.10.2022
Aktenzeichen C-66/21

Stichpunkte

Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/81; Verpflichtung zur Gewährung einer Erholungs- und Bedenkzeit; Anwendbarkeit des Verbots der Vollstreckung von Rückführungsentscheidungen nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie auf Überstellungen nach der Dublin-Verordnung.

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich einer Vorlage des Bezirksgerichts Den Haag (Rechtbank Den Haag, Niederlande), dass das Verbot der Vollstreckung von Rückführungsmaßnahmen nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 („über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren“) auch für Überstellungen nach der Dublin-III-Verordnung gilt. Weiterhin entscheidet der EuGH, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen während der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie garantierten Bedenkzeit zwar erlassen und vorbereitet, jedoch nicht vollstreckt werden dürfen.

Der Kläger hatte bereits drei Asylanträge in Italien gestellt und beantragte danach nochmals Asyl in den Niederlanden. Die Niederlande ersuchten Italien um Wiederaufnahme des Klägers gemäß der Dublin-III-Verordnung, Italien stimmte diesem Gesuch im Juni 2019 zu. Die niederländischen Behörden informierten den Kläger Anfang Juli 2019 über dieses Vorgehen und die Absicht, den Asylantrag als unzulässig abzulehnen, weil Italien nach der Dublin-III-Verordnung zuständig sei. Ende Juli 2019 erklärte der Kläger, dass er in Italien Betroffener von Menschenhandel geworden sei. Er habe den Täter in der Aufnahmeeinrichtung in den Niederlanden wiedererkannt. Die niederländischen Behörden lehnten dennoch die Bearbeitung des Asylantrages ab und ordneten seine Überstellung nach Italien an. Im Oktober 2019 erstattete der Kläger Anzeige wegen Menschenhandels bei der niederländischen Polizei. Die Staatsanwaltschaft kam jedoch zu dem Ergebnis, dass in den Niederlanden nichts vorliege, womit sich die Anzeige des Klägers untermauern ließe. Seiner Anzeige wurde nicht weiter nachgegangen. Der Kläger wehrte sich gerichtlich gegen die Entscheidung der niederländischen Behörden, ihn nach Italien abzuschieben.

Das vorlegende niederländische Gericht stellte dem EuGH die Frage, ob die niederländischen Behörden ab dem Zeitpunkt ihrer Kenntnis davon, dass der Kläger angab, in Italien sowie in den Niederlanden Betroffener von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel geworden zu sein, diesem eine Bedenkzeit hätten einräumen müssen, bevor sie seine Überstellung nach Italien anordneten. Weiterhin fragt das vorlegende Gericht den EuGH, ob das in der Richtlinie normierte Verbot der Vollstreckung von „Rückführungsentscheidungen“ nur für Abschiebungen aus dem Hoheitsgebiet der EU oder auch für Abschiebungen in einen anderen EU-Mitgliedstaat nach der Dublin-III-Verordnung gelte. Die tschechische Regierung gab zudem eine Erklärung zu dem Verfahren ab (u.a. die EU-Mitgliedstaaten oder die Kommission können im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Stellung nehmen). Sie vertrat den Standpunkt, dass die Richtlinie 2004/81 nicht auf den Kläger anwendbar sei, da diese nur für Drittstaatsangehörige gelte, die Betroffene von Menschenhandel „sind oder waren“. Dies sei für den Kläger nicht festgestellt worden, er behaupte es lediglich.

Der EuGH stellt zunächst klar, dass die in der Richtlinie 2004/81 normierten Rechte jedem Drittstaatsangehörigen zustehen, bei dem Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er Betroffener von Menschenhandel ist. Die Einräumung einer Bedenkzeit hängt daher nicht davon ab, dass die Tat und Betroffeneneigenschaft bewiesen sind. Der Verdacht muss lediglich hinreichend plausibel sein. Weiterhin legt das Gericht dar, dass die Richtlinie zwei Ziele verfolgt. Zum einen, die Rechte der Betroffenen von Menschenhandel zu schützen und zum anderen, zur Wirksamkeit von Strafverfolgung beizutragen. Mit der Bedenkzeit soll dafür gesorgt werden, dass sich Betroffene erholen und dem Einfluss der Täter*innen entziehen können, um eine fundierte Entscheidung darüber treffen zu können, ob sie mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten. Der betreffende Mitgliedstaat muss in dieser Zeit Beistands- und Unterstützungsmaßnahmen sicherstellen.

Der EuGH argumentiert, dass diese Beistands- und Unterstützungsmaßnahmen nicht angeboten bzw. in Anspruch genommen werden können, wenn die Betroffenen das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates bereits verlassen haben. Dies würde der Erholung schaden und die Schutzbedürftigkeit der Betroffenen noch erhöhen. Würde die Rückführung während der Bedenkzeit vollstreckt, wird dies darüber hinaus dazu führen, dass Betroffene nicht mehr als Zeug*innen im Ermittlungs- oder Strafverfahren aussagen (können). Dies würde den Zielen der Richtlinie zuwiderlaufen. Dementsprechend gilt das Verbot der Vollstreckung von Rückführungsentscheidungen nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 für alle aufenthaltsbeendenden Maßnahmen. Es sind sowohl Maßnahmen erfasst, die den Aufenthalt in der Europäischen Union insgesamt beenden (Abschiebung in das Herkunftsland) als auch Entscheidungen nach der Dublin-III-Verordnung (Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat). Der EuGH stellt fest, dass
Art. 6 Abs. 2 nach seinem Wortlaut weder den Erlass der Entscheidung noch vorbereitende Maßnahmen verbietet, sondern nur die Vollstreckung selbst. Jedoch dürfen weder Erlass noch Vorbereitung während der Bedenkzeit dazu führen, dass das doppelte Ziel der Richtlinie (Schutz der Betroffenenrechte und effektive Strafverfolgung) konterkariert wird. Bestehen vorbereitende Maßnahmen z.B. darin, Personen in Abschiebehaft zu nehmen, würde dies, insbesondere in Anbetracht der besonderen Schutzbedürftigkeit von Betroffenen, der Erholung und fundierten Entscheidung entgegenwirken.

Entscheidung im Volltext:

EuGH_20_10_2022.pdf (PDF, 375 KB, nicht barrierefrei)

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