BSG, Urteil vom 13.7.2022
Aktenzeichen B 7/14 AS 52/21 R

Stichpunkte

Klarstellende Revisionsentscheidung des Bundessozialgerichts wegen Gewährung eines Mietschuldendarlehens gem. § 22 Abs. 8 SGB II; Bedarfsanzeige ist ausreichend, d.h. gesonderter Antragstellung bedarf es nicht; unterkunftsbezogene private Schulden bei Dritten werden bei Vorliegen der Voraussetzungen übernommen; eingeschränktes Ermessen nach § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II; Ermessensentscheidung nach § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II; Darlehenshöhe ist begrenzt auf die nachweislich erlangte und zum Ausgleich der Mietschulden verwendete Summe

Zusammenfassung

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) gibt der Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (LSG) vom 10. September 2020 statt und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Die Klägerin erhielt bis Januar 2015 Leistungen nach dem Arbeitslosengeld II (ALG II). Ab Februar 2015 beantragte sie zunächst keine Leistungen. Erst aufgrund ihres Antrags im Juni 2015 erhielt sie erneut Leistungen für den Bewilligungszeitraum vom Juni bis Oktober 2015. Das Jobcenter (Beklagter) zahlte, wie auch schon vor Februar 2015, monatlich 335 EUR Miete direkt an den Vermieter. Am 19. August 2015 drohte der Vermieter die Kündigung der Wohnung an, woraufhin die Klägerin den Beklagten mehrfach auf den entstandenen Mietrückstand seit Februar 2015 und die drohende Obdachlosigkeit hinwies. Ebenfalls am 19. August 2015 beantragte die Klägerin rückwirkend Leistungen ab Februar 2015. Anfang September 2015 forderte der Beklagte Nachweise über die entstandenen Mietschulden sowie ggf. über eine erhobene Räumungsklage und die Bestätigung, dass diese bei Zahlung der Mietschulden ausgesetzt werde. Mit Bescheid vom 22. September 2015 lehnte der Beklagte ALG II-Leistungen ab Februar 2015 ab. Er teilte der Klägerin mit, dass Bedarfe für Unterkunft und Heizung für Februar bis Mai 2015 bei drohendem Verlust der Wohnung als Darlehen erbracht werden könnten. Daraufhin beantragte die Klägerin ein Darlehen für die von Februar bis Mai 2015 zu zahlenden Kosten der Unterkunft und Heizung. Der Beklagte erbat mit Schreiben vom 06.Oktober 2015 die Mitteilung der konkreten Höhe der Mietschulden und die Vorlage von Nachweisen über einen unabweisbaren Bedarf (drohende Obdachlosigkeit, Räumungsklage, Bestätigung, dass diese bei Zahlung der Mietschulden ausgesetzt werde). Am 05. Oktober 2015 erhielt die Klägerin eine fristlose Kündigung des Vermieters wegen Mietrückständen in Höhe von 2.295 EUR (für Januar bis Oktober 2015), den sie dem Beklagten am 09. Oktober 2015 vorlegte. Der Beklagte forderte mit Schreiben aus Oktober und Dezember 2015 weitere Mitwirkungshandlungen der Klägerin an. Im Januar 2016 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, dass die noch verbliebenen Mietschulden in Höhe von 1.420 EUR aufgrund eines Privatdarlehens, das die Klägerin bei einer Bekannten aufgenommen habe, beglichen worden seien. Die Kündigung sei am 16. Oktober 2015 zurückgenommen worden. Sie verfolgte weiterhin den Darlehensantrag, da sie nunmehr Schulden bei ihrer Bekannten in dieser Höhe habe. Mit Bescheid vom 12. Januar 2016, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Mai 2016, lehnte der Beklagte den Darlehensantrag ab. Zur Begründung führte er aus, es sei kein Bedarf mehr zu decken. Mögliche Schulden bei Dritten seien unerheblich. Die Klägerin führte aus, es komme auf die Voraussetzungen für ein Darlehen bei der Antragstellung an. Sie legte die Kopie eines Schuldscheins vor, nachdem sie der Bekannten 1.420 EUR schulde. Sie reichte Kontoauszüge ein, die eine Bareinzahlung in Höhe von 1.055 EUR und eine Überweisung dieses Betrages an den Vermieter am 09. Oktober 2015 belegten. Das Sozialgericht hat die Klage per Gerichtsbescheid vom 10. September 2020 in erster Instanz zurückgewiesen. Das LSG hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, dass keine Untätigkeit des Beklagten vorgelegen habe. Der Beklagte habe vielmehr im Oktober und Dezember 2015 durch Mitwirkungsaufforderungen wegen Aufklärung des Sachverhalts reagiert.

 

Das BSG stellt zunächst fest, dass nur hinsichtlich der für Februar bis Mai 2015 offenen Zahlungen die Übernahme der Mietschulden gem. § 22 Abs. 8 SGB II zu prüfen ist. Welcher Teil der vom Vermieter zum Zeitraum Januar bis Oktober 2015 mitgeteilten Zahlungsrückstände in Höhe von 2.295 EUR sich auf Aufwendungen im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II und welcher Teil sich auf Schulden im Sinne des § 22 Abs. 8 SGB II bezieht, vermochte das BSG anhand des vom LSG festgestellten Sachverhalts nicht zu beurteilen, genauso wenig, ob die geltend gemachten 1.420 EUR auf Mietschulden zurückzuführen sind. Mit Hinweis auf den Vorgängerparagraphen von § 22 Abs. 8 SGB II (§ 22 Abs. 5 SGB II a.F.) bzw. die dazu einschlägige BSG-Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 17.06.2010, B 14 AS 58/09 R) und die ab 01.01.2011 geltende Fassung des § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II stellt das BSG klar, dass die Anzeige eines (noch) zu deckenden Bedarfs ausreichend und keine gesonderte Antragsstellung erforderlich ist. Eine solche Anzeige des Bedarfs der Mietschuldenübernahme ist dem BSG zufolge im August 2015 erfolgt. Das BSG führt darüber hinaus aus: Sollten die Mietschulden nach Geltendmachung des Bedarfs aufgrund einer „Umschuldung“ weggefallen sein, ermöglicht § 22 Abs. 8 SGB II auch die Übernahme von unterkunftsbezogenen Schulden bei Dritten. Das setzt voraus, dass der Beklagte nicht rechtzeitig entschieden hat, aber die Voraussetzungen für die Gewährung des Darlehens objektiv vorlagen. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung, zu der das beklagte Jobcenter Gelegenheit zur Entscheidung gehabt habe. Dem BSG zufolge, ist zunächst zu prüfen, ob ein Fall des § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II vorliegt, bei dem das Ermessen eingeschränkt ist: Wenn – als weitere Tatbestandsvoraussetzungen – die Übernahme der Schulden gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht, sollen die Schulden im Regelfall übernommen werden. Wohnungslosigkeit droht einzutreten, wenn bei Verlust der bewohnten, kostenangemessenen Wohnung keine Möglichkeit besteht, ebenfalls angemessenen Ersatzwohnraum zu erhalten. Dabei ist die konkrete Wohnungsmarktlage zu berücksichtigen. Das BSG kann das nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht beurteilen. Wenn die Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II nicht vorliegen sollten, ist der Sachverhalt laut BSG im Ermessensweg nach Maßgabe von § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II zu prüfen. Im Rahmen der Ermessensausübung gem. § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II ist zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für die Betroffenen hätte. Abzuwägen seien persönliche Umstände, wie der gesundheitliche Zustand der Wohnungsnutzenden und ihr Alter, aber auch die Zumutbarkeit eines Umzugs in Anbetracht der bisherigen Nutzungsdauer der Unterkunft. Außerdem kann Einfluss auf die Ermessensausübung haben, warum die Schulden entstanden sind und ob eine allgemeine Zahlungsbereitschaft durch die Anweisung an das Jobcenter, die Miete unmittelbar an den Vermieter zu zahlen, bereits dokumentiert ist. Berücksichtigt werden können finanzielle Erwägungen, etwa die anfallenden Anwaltskosten oder diejenigen einer Räumungsklage, die Differenz zwischen den Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 Abs. 1 SGB II), der derzeit bewohnten Wohnung und den in einer anderen Unterkunft maximal zu übernehmenden Aufwendungen und der Umfang der vom Jobcenter zu übernehmenden Umzugskosten.

Das BSG stellt klar, dass dem beklagten Jobcenter im September 2015 die Entscheidung über ein Mietschuldendarlehen möglich gewesen wäre. Ihm haben sowohl die Konkretisierung der Bedarfsanzeige vom September 2015 als auch die Verwaltungsakte vorgelegen. Eines Nachweises über eine erhobene Räumungsklage oder weiterer Mitwirkungsobliegenheiten seitens der Klägerin bedurfte es nicht, weil sich die Klägerin in einem Zahlungsverzug befand, der den Vermieter zur außerordentlichen Kündigung berechtigte.

Dem BSG zufolge spricht viel dafür, dass sich die Höhe der zu übernehmenden Schulden auf 1.055 EUR begrenzt, weil nur für diese Summe der tatsächliche Einsatz für die Mietschulen beim Vermieter nachgewiesen wurde.

 

Entscheidung im Volltext:

BSG_13_7_2022 (PDF, 137 KB, nicht barrierefrei)

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