EGMR, Urteil vom 17.1.2017
Aktenzeichen 58216/12 "J. u. a. gegen Österreich"

Stichpunkte

Entscheidung zum Umfang der staatlichen Schutzpflichten aus Artikel 4 EMRK (Verbot der Zwangsarbeit); keine Pflicht zur Schaffung einer universellen Gerichtsbarkeit für das Delikt des Menschenhandels; Schutzpflicht darf den staatlichen Behörden keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegen

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt fest, dass Österreich weder gegen das Verbot der Zwangsarbeit noch gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstoßen hat. Die Klägerinnen sind philippinische Staatsangehörige. Sie arbeiteten jeweils ab dem Jahr 2006 beziehungsweise 2010 als Au-pair/Dienstmädchen in Dubai. Ihre dortigen Arbeitgeber*innen nahmen ihnen ihre Reispässe ab, hielten Lohn zurück und zwangen sie unter Androhung von Misshandlungen zur Ableistung vieler Überstunden. Am 02.07.2010 reisten die Arbeitgeber*innen mit den Klägerinnen für eine kurze Reise nach Wien, wobei die Klägerinnen auch dort von 5 oder 6 Uhr bis Mitternacht oder länger arbeiten mussten und ihre Reisepässe weiterhin bei ihren Arbeitgeber*innen verblieben. Mit Hilfe eines Hotelangestellten, der ihre Muttersprache beherrschte, konnten die Klägerinnen ihren Arbeitgeber*innen entkommen. Durch die lokale, von der österreichischen Regierung finanzierte Nichtregierungsorganisation LEFÖ unterstützt, erstatteten sie im Juli 2011 Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeber*innen, woraufhin sie von auf Menschenhandel spezialisierten Beamt*innen befragt wurden. Die Staatsanwaltschaft Wien stellte das Strafverfahren mit der Begründung ein, die Straftaten seien außerhalb österreichischen Staatsgebiets von Nicht-Staatsbürger*innen begangen worden und österreichische Interessen seien nicht verletzt. Den darauf folgenden Fortsetzungsantrag lehnte das Landgericht Wien ab. Der lediglich drei Tage andauernde Aufenthalt in Österreich stehe der Erfüllung des Tatbestandes des Menschenhandels entgegen; hinsichtlich der Handlungen auf dem Staatsgebiet der Vereinigten Arabischen Emirate bestehe hingegen keine gerichtliche Zuständigkeit. Gegen diese Entscheidung hatten die Betroffenen vor dem EGMR Beschwerde eingelegt und einen Verstoß gegen Art. 4 (Verbot der Zwangsarbeit), Art. 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung) und Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gerügt.

Der EGMR stellt fest, dass sich aus Art. 4 EMRK sowohl eine positive Pflicht des Staates zum Schutz und zur Unterstützung potenzieller Betroffener von Menschenhandel als auch eine Pflicht zur Ermittlung von Vorwürfen wegen Menschenhandels ergibt. Ersterer sei Österreich hinreichend nachgekommen, indem die Vorwürfe der Klägerinnen ernst genommen wurden, für die Befragung spezialisierte Fachkräfte eingesetzt und den Klägerinnen mit Hilfe der Organisation LEFÖ nicht nur Rechtsbeistand sondern auch eine Aufenthaltsgenehmigung für Betroffene von Menschenhandel gewährt wurde. Auch die Pflicht zur Ermittlung sei durch die Einstellung des Strafverfahrens nicht verletzt worden. Mit Blick auf die außerhalb von Österreich vorgenommenen Tathandlungen stellt der EGMR fest, dass sich aus der Konvention keine Pflicht ergibt, für die Art. 4 EMRK betreffenden Straftatbestände eine universelle – also von Tatort und betroffenen Personen unabhängige – Gerichtsbarkeit zu begründen. Vielmehr sieht auch die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels in Art. 31 eine Pflicht zur Begründung einer Gerichtsbarkeit nur für Straftaten mit Bezug zu dem jeweiligen Staat, insbesondere zum Hoheitsgebiet oder zu Staatsangehörigen, vor. Hinsichtlich der Ereignisse im Inland ist der EGMR der Ansicht, die Bewertung der Strafverfolgungsbehörden, der Tatbestand des Menschhandels sei nicht erfüllt, sei nicht unzutreffend. Auch wenn man die Ereignisse in Österreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten als zusammenhängend betrachte, seien die österreichischen Behörden nicht zu weiteren Ermittlungen verpflichtet gewesen. Insoweit stellt der EGMR fest, dass den Behörden keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt werden darf. Zu dem Zeitpunkt, indem die Klägerinnen die Strafanzeigen erstatteten, waren ihre Arbeitgeber*innen bereits seit einem Jahr nicht mehr in Österreich. Den Behörden stand somit nur die Möglichkeit eines Rechtshilfeersuchens zur Verfügung, wobei zwischen Österreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten kein Rechtshilfeübereinkommen besteht und entsprechende Ersuche in der Vergangenheit ohne Grund verweigert wurden. Der EGMR ist daher der Ansicht, weitere Maßnahmen seien nicht erfolgsversprechend gewesen.

Mit Blick auf Art. 3 EMRK stellt der EGMR fest, dass die sich hieraus ergebenden Verfahrenspflichten nicht über die aus Art. 4 EMRK hinausgehen. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK kann der EGMR ebenfalls nicht feststellen, da – unabhängig von der Tatsache, dass in Österreich kein formelles Erkennungssystem für Betroffene von Menschenhandel existiert – die Klägerinnen im Einklang mit internationalem und nationalem Recht als Betroffene von Menschenhandel behandelt wurden.

 

Entscheidung im Volltext:

egmr_17_04_2017 (PDF, 582,78 KB, nicht barrierefrei)

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