VG Sigmaringen, Urteil vom 15.2.2023
Aktenzeichen A 7 K 4913/20

Stichpunkte

Negativ-Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Menschenhandel betroffene Nigerianerin; Darstellung der Rechtsprechung zur Einordnung nigerianischer Menschenhandelsbetroffener als asylrelevante `soziale Gruppe´; Gericht lehnt dies für Rückkehrer*innen ab

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) weist die Klage einer von Menschenhandel betroffenen Nigerianerin auf Flüchtlingsanerkennung ab.

Die Frau war 2019 über Italien nach Deutschland eingereist und hat einen Asylantrag gestellt. In ihrer Anhörung hatte sie angegeben, Nigeria zum ersten Mal 2009 verlassen zu haben. Eine Madame habe ihre Ausreise organisiert. In Italien habe sie ohne Kontrolle als Prostituierte bei der Madame gearbeitet. Als es dann Streit gegeben habe, sei sie von der Madame weggegangen und habe bis zu ihrer Abschiebung aus Italien zurück nach Nigeria im Jahr 2010 bei einer anderen Nigerianerin gewohnt. Von 2010 bis 2015 habe sie wieder bei ihrer Familie in Nigeria gelebt. Probleme mit der Madame habe es gegeben, als auch diese aus Italien nach Nigeria abgeschoben wurde und die Klägerin bedroht habe, da sie ihr noch Geld schulden würde. Die Klägerin habe kein Geld zahlen können. Einige Monate später seien Männer gekommen und haben den Vater der Klägerin erschossen, daraufhin habe die Mutter die Klägerin und ihre Schwester zu einem Bekannten geschickt. Dieser habe sie später mit nach Libyen genommen. Von dort sei sie wieder nach Italien gereist. Dort habe sie einen Gehilfen der Madame getroffen und wieder in der Prostitution gearbeitet. Das Geld habe sie an die Madame abgegeben. Auch bei diesem Aufenthalt sei sie ohne Kontrolle der Prostitution nachgegangen, bis sie 2017 entschieden habe, nicht mehr in der Prostitution zu arbeiten und auch kein Geld an die Madame mehr gezahlt habe. Sie habe aber weiter in der Gegend gelebt, wo der Gehilfe der Madame wohnte, sei aber nicht bedroht worden.

Sie hatte angegeben sich im Falle einer Rückkehr nach Nigeria von der Madame bedroht zu fühlen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte den Asylantrag abgelehnt und Abschiebung angedroht, da es die Angaben der Frau nicht für glaubhaft hielt bzw. keine Gefährdung für den Fall der Rückkehr gegeben sah. In Lagos sei die Frau vor eventueller Verfolgung sicher und könne auch ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben.

Das VG verneint jedoch eine Flüchtlingseigenschaft. Es glaubt der Frau zwar ihre Angaben, dass sie in Italien Opfer von Zwangsprostitution geworden sei. Nach Ansicht des Richters stellt Verfolgung zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung im Rahmen des organisierten Menschenhandels jedoch keinen asylrelevanten Verfolgungsgrund dar. Das Gericht bezieht sich dabei auf eine Entscheidung des VG Stuttgart vom 16.11.2020 (A 1 K 8819/18), dessen Ausführungen zu Menschenhandel in Nigeria es wiedergibt. Im Ergebnis widerspricht es aber dem VG Stuttgart und ist der Ansicht, von Menschenhandel Betroffenen könne die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, da es an einem Verfolgungsgrund fehle, weil rückkehrende von Menschenhandel Betroffene keine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs.1 Nr. 4 Asylgesetz (AsylG) darstellten.

Das VG erläutert, auch unter Verweis auf weitere Rechtsprechung, die Voraussetzungen für das Vorliegen einer solchen sozialen Gruppe.

So sieht es die Anknüpfung an die geschlechtliche Identität zweifelsfrei gegeben, da fast ausschließlich Frauen betroffen seien. Es fehle aber an einer Abgrenzbarkeit der Gruppe der Rückkehrer*innen, d.h. einer Wahrnehmung durch die sie umgebende Gesellschaft als andersartig. Dies könne vielleicht zu Beginn nach ihrer Rückkehr noch angenommen werden, wenn die Rückkehrer*innen insbesondere wegen ihrer Prostitutionstätigkeit stigmatisiert würden; dies ließe aber mit Zeitablauf nach, da dieses Merkmal dann äußerlich nicht mehr erkennbar sei. Danach könne eine Verfolgung in Anknüpfung an dieses Merkmal dann nur noch von Personen ausgehen, die davon wüssten, also Familienangehörige oder Personen aus dem Menschenhändler*innenkreis. Hierin sieht das VG aber einen Ausschlussgrund für die Zusprechung einer Flüchtlingseigenschaft, da dann die Verfolgungshandlung (Reviktimisierung durch den Menschenhändler*innenring bzw. Stigmatisierung durch die Gesellschaft) und das Anknüpfungsmerkmal identisch seien. Für die Annahme einer Flüchtlingseigenschaft müsse das Anknüpfungsmerkmal sich aber von der Verfolgungshandlung unterscheiden, also schon vor der Verfolgung bestanden haben.

Das VG ergänzt, dass selbst wenn es sich der Rechtsprechung, die in solchen Fällen eine soziale Gruppe bejaht, anschließen würde, käme es für die Klägerin nicht zu der Prognose, dass ihr im Falle der Rückkehr eine Verfolgung drohe. So hätte diese angegeben, nicht in ihre Heimat nach Benin City zurückkehren zu wollen, so dass ihr aus dem sozialen Umfeld keine Verfolgung drohe. Auch von Seiten des Menschenhändler*innenringes sah das Gericht keine Bedrohung. Da schon der nigerianische Staat nicht die Möglichkeit habe, die Einreise von Rückkehrer*innen zu kontrollieren, sei nicht anzunehmen, dass dies den Menschenhändler*innenringen möglich sei.

Das Gericht bezieht sich in seinen Ausführungen unter anderem auf eine im Ergebnis allerdings die Flüchtlingseigenschaft bejahende Entscheidung des VG Würzburg (17.11.2015) und eine mit ähnlicher Begründung wie vorliegend ablehnende des VG Gelsenkirchen (15.3.2013).

Weitere positive, die Einordnung der nach Nigeria rückkehrenden Menschenhandelsbetroffenen als soziale Gruppe bejahende Entscheidungen:

VG Stuttgart, 23.9.2021

VG Stuttgart, 17.1.2020

VG Wiesbaden, 14.3.2011

 

Entscheidung im Volltext:

vg_sigmaringen_15_02_2023 (PDF, 126 KB, nicht barrierefrei)

Gefördert vom
Logo BMFSFJ
KOK ist Mitglied bei

Kontakt

KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Lützowstr.102-104
Hof 1, Aufgang A
10785 Berlin

Tel.: 030 / 263 911 76
E-Mail: info@kok-buero.de

KOK auf bluesky