SG Dortmund, Urteil vom 29.7.2020
Aktenzeichen S 58 KG 7/19

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Sozialgerichtsverfahren wegen Anspruchs auf Kindergeldzahlung an sich selbst; Voraussetzungen des Kindergeldanspruches; Anforderungen an die Unkenntnis des Aufenthaltsortes der Eltern

Zusammenfassung

Das Sozialgericht Dortmund (SG) verurteilt die Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld an die Klägerin. Die Klägerin ist im Niger geboren. Sie floh im Jahr 2011 aufgrund drohender Zwangsheirat und Beschneidung sowie der Gewalttätigkeit ihres Vaters und reiste unbegleitet in die Bundesrepublik ein. Im Dezember 2011 stellte sie eine Suchanfrage beim Deutschen Roten Kreuz für ihre Mutter und wies darauf hin, dass ihre Mutter nach der Auseinandersetzung mit dem Vater bei ihrem Onkel untergekommen sei und ihr Vater Imam im Niger sei. Im September 2014 beantragte die Klägerin erstmals Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG), woraufhin die Familienkasse ihr fortlaufend Kindergeld bewilligte. Anlässlich des Endes ihrer Schulausbildung und dem Beginn ihres Studiums forderte die Familienkasse die Klägerin auf, einen Fragebogen zum Aufenthalt ihrer Eltern auszufüllen. Im Fragebogen führte die Klägerin aus, dass sie ihre Eltern 2011 in Afrika zurückgelassen habe, als Anschrift nannte sie einen Ort im Niger. Der letzte persönliche Kontakt habe im Juni 2011 stattgefunden. Daraufhin bewilligte die Familienkasse die Auszahlung des Kindergeldes, forderte im folgenden Jahr jedoch erneut den Fragebogen zum Aufenthalt der Eltern an. In diesem gab die Klägerin an, dass keine Behörde zur Feststellung des Aufenthalts der Eltern eingeschaltet sei. Sie kenne den Aufenthaltsort der Eltern nicht. Die Familiensituation habe sich aufgrund der Gewalttätigkeit ihres Vaters schwierig gestaltet. Mit Bescheid vom 04.06.2019 lehnte die Familienkasse den Antrag auf Kindergeld ab April 2019 ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kindergeld aus § 1 Abs. 2 BKKG, da sie keine Bemühungen nachgewiesen habe, den Aufenthalt der Eltern zu ermitteln. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein. Diesen begründete sie damit, dass sie mangels Kontakts zu ihren Eltern nicht wisse, wo sich diese aufhalten. Zudem fügte sie die Suchanfrage nach ihrer Mutter beim Deutschen Roten Kreuz bei. Daraufhin änderte die Familienkasse die Begründung ihres Bescheides dahingehend, dass der Aufenthaltsort der Eltern bekannt sei und die Klägerin jederzeit Kontakt aufnehmen könne.

Das SG bejaht den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld. Der Anspruch sei nur dann ausgeschlossen, wenn die Klägerin positive Kenntnis des Aufenthaltsorts ihrer Eltern habe. Nach Ansicht des SG hat die Klägerin glaubhaft vorgetragen, sie kenne den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht. Die bloße Vermutung der Familienkasse, die Eltern befänden sich weiterhin im Niger, sei nicht mit positiver Kenntnis gleichzusetzen. Die Suchanfrage beim Deutschen Roten Kreuz bezüglich der Mutter der Klägerin sei ohne Erfolg geblieben. Zudem sei es für die Klägerin kaum möglich ihre Eltern zu erreichen, da diese zum Fluchtzeitpunkt kein Telefon besessen hätten und auch die postalische Erreichbarkeit im Niger nicht gesichert sei. Schließlich sei ein Kontakt mit dem Vater  für die Klägerin aufgrund dessen Vorhaben, sie gegen ihren Willen zu verheiraten, und aufgrund seiner Gewalttätigkeit nicht zumutbar.

Entscheidung im Volltext:

sg_dortmund_29_07_2020 (PDF, 88,49 KB, nicht barrierefrei)

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