EuGH, Urteil vom 30.3.2023
Aktenzeichen C-338/21

Stichpunkte

Klarstellende Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren zur Aussetzung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung (VO); Verhältnis zur Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels (2004/81/EG); Aussetzung der Überstellungsentscheidung aufgrund eines Rechtsbehelfs gegen die Versagung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Betroffener von Menschenhandel; keine Aussetzung der Überstellungsfrist durch einen solchen Rechtsbehelf

Zusammenfassung

Die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 und 2 der DublinIII-VO, die Überstellungsentscheidungen und deren Rechtsbehelfe sowie Fristen im Rahmen von Asylverfahren regeln. Der EuGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob diese Regelungen einem nationalen Gesetz entgegenstehen, wonach Rechtsmittel gegen die Versagung der Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen Menschenhandel zur Aussetzung einer Abschiebung nach der Dublin-III-VO führen. Im Ergebnis entscheidet der EuGH, dass Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 und 2 der DublinIII-VO einer solchen nationalen Regelung, wie sie das niederländische Recht vorsieht, entgegenstehen. Die Überstellungsfrist eines Drittstaatsangehörigen wird also in solchen Fällen nicht ausgesetzt.

Im vorliegenden Fall waren drei Personen zunächst nach Italien eingereist und hatten danach Asyl in den Niederlanden beantragt. Die Niederlande ersuchten Italien um Wiederaufnahme gemäß der Dublin-III-Verordnung, Italien stimmte diesem Gesuch zu.  Daraufhin lehnten die niederländischen Behörden die Asylanträge ohne Prüfung ab, wogegen die drei Personen beim erstinstanzlichen Gericht Klage erhoben. Alle drei Personen erstatteten in der nachfolgenden Zeit Anzeige wegen Menschenhandels, dessen Opfer sie in den Niederlanden oder Italien geworden seien. Diese Anzeigen wurden als Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus vorübergehenden humanitären Gründen bzw. wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels angesehen. Die Niederlande lehnten auch diese Anträge ab, wogegen die Betroffenen Rechtsmittel einlegten.

Das Gericht gab den Klagen gegen die Ablehnung der Asylanträge statt, weil die in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-VO vorgesehene Überstellungsfrist bereits abgelaufen war. Die Niederlande seien nun für die Anträge auf internationalen Schutz zuständig. Gegen diese Entscheidungen legten die niederländischen Behörden Berufung ein.

In den Niederlanden ist gesetzlich geregelt, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist unterbrochen wird, sobald Rechtsmittel gegen eine Entscheidung eingelegt werden, in der Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels versagt wird. Die niederländischen Behörden begründeten daher in der Folge die Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile, mit denen die Überstellungsentscheidungen nach Italien für nichtig erklärt wurden, mit dieser nationalen Regelung und der daraus folgenden Unterbrechung der Überstellungsfrist. Das Berufungsgericht legte die Frage dem EuGH vor. Es legt im Vorabentscheidungsersuchen u.a. dar, dass die nationale Regelung notwendig sei, um die praktische Wirksamkeit der Dublin-III-Verordnung und Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels zu gewährleisten und Rechtsmissbräuche zu vermeiden.

Der EuGH stellt in seiner Entscheidung fest, dass sich aus der Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels (RL 2004/81/EG) keine Pflicht der Mitgliedstaaten ergibt, die Abschiebung auszusetzen, wenn Drittstaatsangehörige einen Antrag auf Überprüfung einer abweisenden Entscheidung über einen auf die Richtlinie gestützten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels stellen. Aus der Wertung insbesondere der Regelung in Art. 6 der Richtlinie ginge hervor, dass Betroffene während der Bedenkzeit nicht gezwungen werden sollten, das Land zu verlassen. Dagegen sei die Zeit nach Ablauf der Bedenkzeit nicht mehr vom Schutzzweck der Richtlinie umfasst. Da die Mitgliedstaaten jedoch nach Art. 4 der Richtlinie auch günstigere Bestimmungen für Betroffene treffen können, sei eine solche Regelung auch nicht europarechtswidrig. Der EuGH stellt jedoch fest, dass es mit EU-Recht nicht vereinbar ist, dass eine solche Aussetzung der Abschiebung die Unterbrechung der Frist für die Überstellung dieser Drittstaatsangehörigen zur Folge hat. Denn eine solche Wirkung kann gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO nur ein Rechtsbehelf nach Art. 27 Abs. 3, 4 Dublin-III-VO haben. Darunter fallen jedoch nur Rechtsbehelfe, die sich gegen die Überstellungsentscheidung selbst, nicht gegen die Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels, richten. Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO diene der Verfahrensbeschleunigung und dürfe hinsichtlich der Länge der Frist in den Mitgliedstaaten nicht unterschiedlich ausgelegt werden, da sich ansonsten die in der Verordnung enthaltene Zuständigkeitsverteilung verändere.

 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_30_03_2023 (PDF, 105 KB, nicht barrierefrei)

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