BVerfG, Urteil vom 20.6.2023
Aktenzeichen 2 BvR 166/16, 2 BvR 1683/17

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im Verfassungsbeschwerdeverfahren wegen Verstoßes gegen das Resozialisierungsgebot hinsichtlich der Entlohnung von Gefangenen; Gefangenenvergütung; Verstoß gegen das Resozialisierungsgebot gemäß Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; strengere Anforderungen der Länder an Resozialisierungskonzepte

Zusammenfassung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gibt den Verfassungsbeschwerden zweier Gefangenen statt.

Die Häftlinge wehrten sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die geringe Höhe der monetären Vergütung ihrer Arbeit. Sie rügten die Verletzung des Resozialisierungsgebots gemäß Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Der Insasse aus Bayern war in der anstaltseigenen Druckerei, der Häftling aus NRW als Kabelzerleger in einem Betrieb beschäftigt.

Das BVerfG gibt den Gefangenen Recht. Die Vergütung für die Gefangenenarbeit im Strafvollzug sei zu niedrig und daher realitätsfern. Der Strafvollzug sei auf das Ziel der Resozialisierung der Häftlinge auszurichten. Den Gefangenen solle durch die Arbeit die Fähigkeit und der Wille zu eigenverantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Die Arbeit diene - neben der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage - auch der Entfaltung der Persönlichkeit.

Die Resozialisierungskonzepte der Länder müssen daher konkret festlegen, durch welche Maßnahmen die Resozialisierung erfolgen und welche Ziele sie verfolgen sollen. Auf ein bestimmtes Regelungskonzept sei der Gesetzgeber nicht festgelegt. Ihm stehe vielmehr ein weiter Gestaltungsraum zu, so das BVerfG.

Arbeit im Strafvollzug sei nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Jedoch könne der Vorteil für die erbrachte Leistung auch unentgeltlich sein, beispielsweise in einer Haftverkürzung oder auch durch die Einbindung in den Schutz sozialer Sicherungssysteme liegen.Die Anrechnung der Arbeit für freie Tage, Urlaub in der Haft oder auch die frühere Haftentlassung sind denkbar. Dieser Gegenwertcharakter für die geleistete Arbeit müsse für den Gefangenen unmittelbar erkennbar sein.

Die Angemessenheit der Vergütungshöhe ist an dem mit dem Resozialisierungskonzept insgesamt verfolgten Zweck zu messen. Wird die Gefangenenarbeit ausschließlich oder hauptsächlich finanziell abgegolten, so könne dies nur dann zur Resozialisierung beitragen, wenn den Gefangenen durch die Höhe der Vergütung in einem Mindestmaß bewusstgemacht werde, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist. Die Höhe der Vergütung sei im Einzelfall an zahlreichen objektiven und subjektiven Kriterien zu messen. Danach könne legitimes Ziel sein, zu große Einkommensunterschiede der Gefangenen untereinander und deren negative Auswirkungen auf das Anstaltsleben zu vermeiden. Ferner können die Bezahlung vergleichbarer Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt sowie die in der Regel geringere Produktivität von Gefangenenarbeit einbezogen werden.

Die Resozialisierungskonzepte der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen genügen nach dem BVerfG diesen Anforderungen nicht, da sie unschlüssig und realitätsfern sind. Aus diesen ergebe sich nach Ansicht des BVerfG nicht, welche Bedeutung dem Faktor Arbeit zukommen und zu welchen Zwecken die vorgesehene Vergütung für die geleistete Arbeit dienen soll. In den Konzepten sind als Resozialisierungsziele vordergründig das Interesse des Opferschutzes und der Schadenswiedergutmachung durch die geleistete Arbeit genannt sowie die Sorge für Unterhaltsberechtigte. Mit der sehr geringen Entlohnung der Gefangenen erscheinen diese Ziele jedoch nicht erreichbar und im Regelfall realitätsfern, so das BVerfG. Das BVerfG rügt außerdem, dass eine kontinuierliche, wissenschaftlich begleitete Evaluation der Resozialisierungswirkung von Arbeit und deren Vergütung nicht stattfinde, um dann gegebenenfalls Vorschriften nachzubessern.

Die entsprechenden Normen der Länder zur Gefangenenvergütung wurden daher für verfassungswidrig erklärt. Sie bleiben aber bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, spätestens bis zum 30.06.2025, weiter anwendbar.

Gefangene sind in fast allen Bundesländern zur Arbeit verpflichtet. Das BVerfG hatte 1998 entschieden, dass diese Form der Zwangsarbeit zulässig ist, Art. 12 Abs. 3 Grundgesetz (2 BvR 441/90). Die Gefangenengewerkschaft fordert seit langem eine wesentliche Erhöhung des Stundenlohns. Für eine gelungene Resozialisierung bedarf es mehr als eines kleinen Taschengeldes. Auch liegen die Preise für z.B. Lebensmittel in den Gefängnisshops und Telefonate nach draußen erheblich höher als außerhalb des Gefängnisses.

Entscheidung im Volltext:

BVerfG_20_06_2023 (PDF, 450 KB, nicht barrierefrei)

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