VG Berlin, Urteil vom 1.6.2023
Aktenzeichen VG 17 K 101/20 A

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Asylverfahren; Abschiebeschutz für von sexueller Gewalt betroffene Nigerianerin wegen Gefahr unmenschlicher Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK; umfassende Darstellung der sozioökonomischen Lage in Nigeria; zur Situation alleinstehender Frauen; Ausführungen zum organisierten Menschenhandel in Nigeria und zur Situation des Gesundheitswesens

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) spricht einer nigerianischen Frau ein auf Nigeria bezogenes Abschiebeverbot zu.

Die verwitwete Klägerin hatte Nigeria 2017 verlassen und war 2019 nach Deutschland gekommen. Zwischenzeitlich hatte sie sich in Libyen aufgehalten. Bei ihr wurden eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und eine Depression sowie eine durch die PTBS hervorgerufene Persönlichkeitsveränderung diagnostiziert, aufgrund derer sie sich seit 2020 in Therapie befindet. Die Frau hatte angegeben, in Nigeria nach dem Tod ihres Mannes Probleme gehabt zu haben. Ihr Schwager habe ihr die Kinder weggenommen. Eine Frau habe ihr bei der Flucht aus Nigeria geholfen, in Libyen sei sie aber an Araber verkauft worden, die sie zur Prostitution gezwungen hätten.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte ihren Asylantrag abgelehnt. Sie sei zwar in Libyen Opfer von Menschenhandel geworden, es sei aber auf die Rückkehrsituation in Nigeria abzustellen. Dort bestünde keine Gefahr für die Klägerin, die auch nicht aus politischen, sondern wirtschaftlichen Gründen aus Nigeria geflohen sei. Es sei zu erwarten, dass sie als erwachsene gesunde Frau in Nigeria ihre wirtschaftliche Existenz sichern könne. Die Klägerin verweist auf ihren Gesundheitszustand. Die benötigte psychiatrische Behandlung könne sie sich in Nigeria nicht leisten, da sie krankheitsbedingt dort nicht arbeiten könne. Sie reduzierte im Laufe des Verfahrens ihren Antrag auf Feststellung eines Abschiebeschutzes.

Das VG spricht ihr diesen zu und stützt sich dabei im Wesentlichen auf psychologische Gutachten und die Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung. In den Gutachten wurde festgestellt, dass die Klägerin schon in Nigeria Opfer sexueller und psychischer Gewalt geworden war und die Familie ihres verstorbenen Mannes ihr die Kinder weggenommen hatte. Auf ihrer Flucht nach Deutschland habe sie weitere Gewalt erlitten. Das Gericht stellt ausführlich die Vorgehensweise der Menschenhändler*innenringe dar und hält dementsprechend die Ausführungen der Klägerin für glaubhaft. Insbesondere die Stellungnahmen der behandelnden Psychotherapeut*innen zu den von der Klägerin geschilderten sexuellen Gewalttaten überzeugen das VG. Diese hatten ausgeführt, der mit einer Rückkehr nach Nigeria verbundene Abbruch der erforderlichen psychotherapeutischen und medikamentösen Therapien und die Lebenssituation in Nigeria würde die Klägerin massiv überfordern, ihren Zustand enorm verschlechtern bis hin zu suizidalen Krisen.

Das VG sieht für die Klägerin keine Möglichkeit, die notwendigen Therapien in Nigeria fortzusetzen, selbst wenn beides dort verfügbar wäre. Das Gericht macht Ausführungen zum Gesundheitssystem, das sich teilweise zwar verbessert hätte, eine gute Versorgung aber nur für Privatzahler*innen gewähre.

Für die Klägerin, ohne Ausbildung, sieht es keine Möglichkeit, die Mittel für ihre Therapien zu erwirtschaften oder diese durch eine eventuelle Rückkehrhilfe zu bestreiten.

Nach Aussagen der Gutachter*innen sei daher von einer massiven Verschlechterung ihres Zustandes auszugehen, was ihre Leistungsfähigkeit im Alltag erheblich einschränken würde, so dass ihre Existenzsicherung ernsthaft bedroht und eine Gefahr der unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK gegeben sei.

Kernpunkte

sozioökonomische Situation / Gesundheitssystem in Nigeria; Menschenhandel in Nigeria; posttraumatische Belastungsstörung (PTBS); Menschenhandel, Zwangsprostitution, Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung; Flüchtlingsanerkennung, Abschiebeverbot

 

Entscheidung im Volltext:

vg_berlin_01_06_2023 (PDF, 1,36 MB, nicht barrierefrei)

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