VG Berlin, Urteil vom 19.7.2023
Aktenzeichen VG 31 K 72/22 A

Stichpunkte

Sehr positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Zwangsverheiratung bedrohte Gambierin wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung; Gericht sieht gambische Frauen als soziale Gruppe; Ausführungen zur Situation der Frauen in Gambia

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einer von Zwangsheirat bedrohten Gambierin wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Frau war 2020 nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt. Sie hatte angegeben, sich bis zu ihrer Ausreise in Gambia mit verschiedenen Jobs über Wasser gehalten zu haben. Sie sei ausgereist, da ihr Vater sie gegen ihren Willen mit einem wesentlich älteren Mann verheiraten wollte und sie bei ihrer Weigerung geschlagen habe. Nach ihrer Ausreise sei sie zunächst in Spanien gewesen und dort zur Prostitution gezwungen worden. Mithilfe eines Gambiers, der Stammkunde gewesen sei, sei sie nach Deutschland gekommen.

Ihr Antrag wurde abgelehnt und die Abschiebung angedroht.

Die Frau hatte außerdem ein ärztliches Attest über eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Depression verursacht durch die drohende Zwangsverheiratung und Zwangsprostitution vorgelegt, sowie einen Bericht der Fachberatungsstelle SOLWODI Berlin, in dem erklärt wurde, in Gambia gäbe es keine (ausreichenden) Therapiemöglichkeiten für die Frau.

Das VG erkennt einen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. §§ 3 ff. Asylgesetz (AsylG) an. Da sie sich durch ihre Ausreise der Zwangsverheiratung entzogen habe, sei sie vorverfolgt ausgereist. Das VG hatte die Frau in der Verhandlung 4 Stunden angehört und ihre Angaben für glaubhaft gehalten. Die Kammer macht Ausführungen zu Erkenntnissen und Berichten zur Situation der Frauen in Gambia, insbesondere im Hinblick auf Zwangsverheiratungen. Diese seien besonders bei Minderjährigen und auf den Dörfern weit verbreitet. Die Regierung versuche zwar dagegen vorzugehen, habe aber keinen Erfolg. Unter Verweis auf weitere Rechtsprechung (u.a. VG Berlin, 31. Kammer vom 17.8.2022) stellt das VG fest, die der Frau in Gambia drohende Zwangsverheiratung stelle eine geschlechtsspezifische Verfolgung dar, die an ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der gambischen Frauen anknüpfe.

Das Gericht zieht dabei Parallelen zwischen der Situation der Frauen in traditionell patriarchalischen Gesellschaften wie in Gambia, Guinea und auch im Senegal, deren Ausgrenzung die nötigen Anhaltspunkte für eine Gruppenidentität und Abgrenzbarkeit darstelle.

Da die Klägerin vorverfolgt ausgereist sei, sei von einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Falle der Rückkehr auszugehen. Die Klägerin könne nicht auf ein Ausweichen in andere Landesteile verwiesen werden, solange dies nicht zumutbar sei, insbesondere wenn eine Sicherung des Existenzminimums zur Vermeidung einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht möglich scheine. Die Darlegungs- und Beweislast für eine positive Prognose hinsichtlich der Existenzsicherung läge beim BAMF.

Für die Klägerin sah das Gericht ein Ausweichen auf einen anderen Landesteil nicht zumutbar. Das Gericht stellt die Schwierigkeiten der (insbesondere alleinstehenden) Frauen auf dem gambischen Arbeitsmarkt dar. Vor diesem Hintergrund und aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme sei eine Sicherung der Existenz nicht gewährleistet. Daran ändere sich auch nichts, wenn die Klägerin Rückkehrhilfen erhalte.

Kernpunkte

Situation der Frauen in Gambia; gambische Frauen als `soziale Gruppe; Zwangsprostitution, Menschenhandel, Zwangsheirat, Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung; Asyl, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebeschutz

 

Entscheidung im Volltext:

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