BGH, Beschluss vom 20.12.2022
Aktenzeichen 2 StR 232/21

Stichpunkte

Höchstrichterliche Revisionsentscheidung im Strafverfahren um Arbeitsausbeutung; Voraussetzungen der Ausbeutung durch eine Beschäftigung (hier: Tätigkeit als Künstler*in), Definition der Beschäftigung im Sinne des § 233 Abs. 1 Nr. 1 StGB und § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB; Voraussetzungen des Ausnutzens einer Zwangslage

Zusammenfassung

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat auf die Revision des Angeklagten hin das Urteil der Vorinstanz (LG Aachen, Urteil vom 18.11.2020) aufgehoben, soweit er wegen (gewerbsmäßigen) Einschleusens von Ausländer*innen, Ausbeutung der Arbeitskraft sowie wegen Betrugs verurteilt worden ist. Der Ausspruch über die Gesamtstrafe und die Einziehungsentscheidung wird daher ebenfalls aufgehoben. Die weitergehende Revision des Angeklagten gegen das Urteil des LG wird verworfen.

Im Jahr 2017 sind vierzehn Akrobat*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen aus Simbabwe auf Veranlassung des Angeklagten nach Deutschland eingereist, um durch den Angeklagten als Künstler*innen für verschiedene Auftritte vermittelt zu werden. Als im Jahr 2018 weitere Engagements ausblieben, schlug der Angeklagte den Künstler*innen vor, auf öffentlichen Plätzen aufzutreten, um Geld zu verdienen. Die Künstler*innen waren einverstanden, reisten in verschiedene Städte und erzielten nach den Feststellungen des LG Aachen ca. 500 EUR Einnahmen pro Auftritt. Der Angeklagte vereinnahmte den Großteil des Betrags nach Abzug der entstandenen Kosten (Essen, Fahrten und Unterbringung), wobei die Unterbringungssituation „katastrophal“ war.

Im Zuge dessen erzielte der Angeklagte seit Anfang 2017 Einkünfte in Höhe von 1.400 EUR bis 2.000 EUR monatlich.

Das Landegericht (LG) Aachen hat den Angeklagten daraufhin u.a. wegen Ausbeutung der Arbeitskraft in zwei Fällen verurteilt.

Die Aufhebung der Verurteilung wegen Ausbeutung der Arbeitskraft durch das LG Aachen begründet der BGH damit, dass die Kriterien für eine ausbeuterische Beschäftigung im Sinne einer Ausbeutung der Arbeitskraft nach §§ 233 Abs. 1 Nr. 1 StGB, 232 Abs. 1 S. 2 StGB in diesem Fall nicht vorliegen.

Nach § 233 Abs. 1 Nr. 1 StGB macht sich unter anderem strafbar, wer eine andere Person unter Ausnutzung ihrer persönlichen oder wirtschaftlichen Zwangslage oder ihrer Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, durch eine Beschäftigung ausbeutet.

Was unter einer Ausbeutung durch eine Beschäftigung zu verstehen ist, ist in § 232 Abs. 1 S. 2 StGB definiert. Danach liegt eine Ausbeutung durch eine Beschäftigung vor, wenn die Beschäftigung aus rücksichtslosem Gewinnstreben zu Arbeitsbedingungen erfolgt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen solcher Arbeitnehmer*innen stehen, welche der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen (ausbeuterische Beschäftigung). Der BGH nimmt Bezug auf die Gesetzesbegründung und stellt klar, dass der Begriff der Beschäftigung im Sinne von § 7 SGB IV zu verstehen ist. Danach muss es sich um nichtselbständige Arbeit handeln. Maßgebliche Kriterien für eine nichtselbstständige Beschäftigung sind die Weisungsgebundenheit der Tätigkeit und die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des*der Weisungsgeber*in. Der BGH ist der Ansicht, dass das LG nicht hinreichend festgestellt hat, dass die Künstler*innen in einem Beschäftigungsverhältnis zum Angeklagten standen. Denn grundsätzlich können auch Künstler*innen Arbeitnehmer*innen sein, wenn sie in den Diensten eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet sind. Das LG hat keine tragfähigen Feststellungen zur Eingliederung der Künstler*innen in eine fremde Arbeitsorganisation oder zu deren Weisungsgebundenheit getroffen. Der BGH stellt weiter fest, dass allein die Feststellung, die Aufführung der Veranstaltungen sei „auf Geheiß“ des Angeklagten durchgeführt worden, keinen ausreichenden Beleg für eine Beschäftigung im Sinne des § 232 Abs. 1 S. 2 StGB liefere. Der Angeklagte habe ausweislich des Urteils des LG Aachen keine Vorgaben zur Ausgestaltung der Tätigkeit gemacht. Darüber hinaus konnten die Künstler*innen durch eigene Entscheidung von Auftritten absehen, sich selbständig andere Arrangements organisieren oder sie suchten sich andere Arbeitsstellen, z.B. in der Gastronomie. Daher stellt der BGH fest, dass von einer Beschäftigung im Sinne des Straftatbestands Menschenhandel nicht ausgegangen werden kann.

Danach prüfte der BGH, ob ein auffälliges Missverhältnis der Arbeitsbedingungen der Künstler*innen im Vergleich zu den Arbeitsbedingungen anderer Personen in dieser Branche vorliegt. Hiervon sei auszugehen, wenn es ins Auge springt, dass die Arbeitsbedingungen gegenüber anderen Arbeitnehmer*innen völlig unangemessen sind. Dafür werden der gezahlte Lohn, die Arbeitszeit, gewährter Urlaub und sonstige Arbeitsbedingungen, der Arbeitsschutz und der Sozialversicherungsstatus berücksichtigt. Bestehen keine vergleichbaren Kriterien, wird der gesetzliche Mindestlohn als Maßstab herangezogen. Künstler*innen sind zwar nicht von vornherein vom Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes ausgenommen. Ihre Tätigkeiten fallen aber nur darunter, wenn diese nach den Kriterien der Weisungsbindung und der Fremdbestimmung als unselbständige Tätigkeit anzusehen sind.

Für den vorliegenden Fall entscheidet der BGH, dass sich das LG nicht das Mindestlohngesetz als Maßstab heranziehen darf, weil dies nur möglich ist, wenn zuvor eine abhängige Beschäftigung festgestellt wurde und diese gerade nicht vorliegt. Auch die Schätzung, es seien Einnahmen von durchschnittlich 500 EUR erzielt worden, sei nicht nachvollziehbar (bloße Vermutung, spekulativ; keine konkreten Angaben über Häufigkeit der Auftritte), so dass diese Summe nicht herangezogen werden kann.

Weiterhin muss der*die Täter*in aus rücksichtlosen Beweggründen, d.h. übersteigertem Gewinnstreben handeln. Auch dies sieht der BGH als nicht belegt an, weil die vorherige Instanz keine tragfähigen Feststellungen zu einem auffälligen Missverhältnis getroffen hat. In diesem Fall fehlt es an einer Bezugsgruppe, die für die Beurteilung des übersteigerten Gewinnstrebens herangezogen werden könnte. Der BGH führt zudem an, der Angeklagte habe sein „empfundenes Minusgeschäft durch die erheblichen Kosten aus Unterkunft und Logis der Künstler“ ausgleichen wollen.

Gemäß § 233 Abs. 1 Nr. 1 StGB muss der Angeklagte unter Ausnutzung einer Zwangslage gehandelt haben oder aufgrund einer sog. ausländerspezifischen Hilflosigkeit. Diese Zwangslage ist durch das LG Aachen nicht belegt worden. Denn die Hilflosigkeit der Betroffenen und ihre Abhängigkeit vom Angeklagten wurden durch das LG mit einer Sprachbarriere, ihrer Mittellosigkeit und ihrer Unkenntnis über die Gegebenheiten in Deutschland begründet. Dies stehe aber nicht im Einklang mit den sonstigen Feststellungen, insbesondere, dass die Künstler*innen bereits einige Monate in Deutschland lebten und zeitweise anderen Tätigkeiten nachgingen, z.B. in der Gastronomie, oder sich selbständig Auftritte im Ausland organisierten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des LG zurückverwiesen.

§ 233 StGB führt in der Praxis immer wieder zu Auslegungsschwierigkeiten. Dies zeigen auch die sehr geringen Verfahrens- und Verurteilungszahlen in diesem Bereich. Ein ausbeuterisches Missverhältnis wird von der Rechtsprechung erst ab einer Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns um 50 % angenommen. Zudem lässt sich ein Missverhältnis nicht ermitteln, wenn (wie vorliegend im Bereich der Selbständigkeit eingeordnet) keine Mindeststandards bestehen.

Die Ablehnung einer Zwangslage überzeugt in diesem Fall nicht, weil der BGH ausschließlich auf die Lebenssituation in Deutschland abstellt. Die Zwangslage beurteilt sich nach der Rechtsprechung nach dem subjektiven Verständnis der Betroffenen, wozu der Beschluss sich nicht äußert. Auch können nach der Rechtsprechung und Meinung in der juristischen Literatur schlechte soziale Verhältnisse im Heimatland der Betroffenen ausreichen, um eine Zwangslage zu begründen.

 

Entscheidung im Volltext:

BGH _20_12_2022 (PDF, 68,32 KB, nicht barrierefrei)

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