OVG NRW, Beschluss vom 16.6.2023
Aktenzeichen 11 A 1132/22.A

Stichpunkte

Interessante Entscheidung im Dublin-Verfahren wegen Überstellung nach Italien; Aufnahmeweigerung der italienischen Behörden stellt systemische Mängel im Asylsystem dar; umfassende Darstellung der Rechtsprechung hierzu

Zusammenfassung

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW weist die Berufung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen die Aufhebung seines Ablehnungsbescheides eines Asylantrages zurück. Die Kläger sind ein pakistanisches Paar, das mit seinen beiden Kindern 2021 auf dem Luftweg mit einem italienischen Visum über Italien nach Deutschland eingereist war und einen Asylantrag gestellt hatte. Auf das Aufnahmegesuch des BAMF hatten die italienischen Behörden nicht geantwortet. Das BAMF lehnte die Anträge als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung an. Auf die Klage der Kläger ordnete das Verwaltungsgericht (VG) München aufschiebende Wirkung der Klage an und hob den Bescheid des BAMF auf. Das VG erklärte, für den Fall der anzunehmenden Anerkennung der Familie als sekundär Schutzberechtigte, drohe ihnen in Italien die Gefahr der unmenschlichen Behandlung gem. Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EGMR) bzw. Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh).

Auf die Berufung des BAMF hiergegen erklärt das OVG den Bescheid des BAMF für rechtswidrig. Deutschland sei für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden, da eine Überstellung der Kläger*innen nach Italien aufgrund des Risikos einer sie dort treffenden unmenschlichen Behandlung nicht durchgeführt werden könne. Zwar gelte zwischen den EU-Mitgliedstaaten der Grundsatz des Vertrauens, dass in dem jeweiligen Aufnahmestaat die Grundrechte eingehalten werden (EuGH 19.03.2019).

Diese Vermutung könne jedoch widerlegt werden, wobei der Grundrechtsverstoß

im Sinne einer unmenschlichen Behandlung eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschreiten müsse.

Das VG sieht systematische Mängel im italienischen Asylsystem und den Aufnahmebedingungen und eine dadurch bestehende Gefahr der unmenschlichen Behandlung gegeben, da die italienischen Behörden Dublin-Rückkehrer*innen die Aufnahme und Unterbringung verweigere.

Das OVG verweist auf zahlreiche weitere Rechtsprechung hierzu und schließt sich der Meinung an, die in den Erklärungen der italienischen Behörden
vom 5. und 7. Dezember 2022, die Dublin-Überstellungen auszusetzen. Der Senat sieht hierin nicht nur eine zeitlich begrenzte Aussetzung, sondern eine Aufnahmeverweigerung auf unbestimmte Zeit.

Hierdurch sei der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens widerlegt und die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung gegeben.

Entscheidung im Volltext:

 

 

Ovg_16_06_2023 (PDF, 184 KB, nicht barrierefrei)

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