EuGH, Beschluss vom 22.9.2022
Aktenzeichen C-120/21

Stichpunkte

Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; wichtiger Beschluss zur Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der EU; Arbeitgeber*innen können sich nicht auf die Verjährung von Urlaubsansprüchen berufen, wenn sie Arbeitnehmer*innen nicht in die Lage versetzt haben, den Urlaub tatsächlich nehmen zu können

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich eines Ersuchens des Bundesarbeitsgerichts (BAG) auf Vorabentscheidung, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 (sog. Arbeitszeitrichtlinie) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) einer Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bzw. auf entsprechenden finanziellen Ersatz nach Ende des Arbeitsverhältnisses, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, wenn Arbeitgeber*innen Arbeitnehmer*innen nicht tatsächlich in die Lage versetzt haben, diesen Anspruch wahrzunehmen.

Die Klägerin im Ausgangsverfahren war vom 01.11.1996 bis zum 31.07.2017 bei dem Beklagten beschäftigt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin Vergütung für 101 Tage nicht genommenen Jahresurlaub zwischen 2013 und 2017. Der Beklagte erhob die Einrede der Verjährung nach § 194 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), die Ansprüche der Klägerin seien damit gem. §§ 195, 199 BGB drei Jahre nach dem Ende des Jahres in dem sie entstanden sind, verjährt.

Erstinstanzlich wurde der Klage lediglich für drei Urlaubstage im Jahr 2017 stattgegeben, ansonsten abgewiesen. Die Klägerin legte sodann Berufung ein, das Landgericht hat einen Anspruch von weiteren 76 Tagen bestätigt. Der Arbeitgeber habe nicht dazu beigetragen, dass die Klägerin den Jahresurlaub hätte nehmen können, sodass die Ansprüche nicht erloschen oder verjährt seien. Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Revision zum BAG ein.

Das BAG hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Das BAG ist der Ansicht, die Ansprüche für die Jahre 2013 bis 2016 seien nicht erloschen, weil der Arbeitgeber die Arbeitnehmer*in nicht in die Lage versetzt habe, den bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zur gebotenen Zeit zu nehmen. Vor dem Hintergrund des Urteils des EuGH C684/16, nachdem Arbeitgeber*innen Arbeitnehmer*innen auffordern müssen, den Jahresurlaub zu nehmen und auch auf das mögliche Erlöschen der Ansprüche hinzuweisen haben, sei der Klägerin Recht zu geben. Im Falle der Verjährung würde nach Ansicht des BAG zum einen eine unrechtmäßige Bereicherung der Arbeitgeber*innen gebilligt werden und zum anderen würde es dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen zuwiderlaufen.

Der EuGH entscheidet, dass der Anspruch auf Jahresurlaub bzw. der Ersatz durch finanzielle Vergütung nach Ende des Arbeitsverhältnisses nur verloren gehen kann, wenn Arbeitgeber*innen Arbeitnehmer*innen tatsächlich in die Lage versetzt haben, den Urlaub rechtzeitig wahrzunehmen. Das Ziel der Verjährungsregeln, die Gewährung von Rechtssicherheit, darf nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich Arbeitgeber*innen, die es versäumt haben, Arbeitnehmer*innen in die Lage zu versetzen, den Urlaub tatsächlich zu nehmen, daraus später einen Vorteil ziehen können, indem sie die Anspruchsverjährung geltend machen. Dies sei mit Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 unvereinbar.

Arbeitgeber*innen können ihrem Bedürfnis nach Rechtssicherheit selbst Genüge tun, wenn sie ihrer Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit nachkommen und Arbeitnehmer*innen somit in die Lage versetzen, den Urlaub tatsächlich zu nehmen. Die Verjährung der Ansprüche ist dann möglich.

 

Entscheidung im Volltext:

eugh_22_09_2022 (PDF, 204 KB, nicht barrierefrei)

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