LSG NRW, Urteil vom 14.6.2023
Aktenzeichen L 12 AS 245/21

Stichpunkte

Wichtiges Urteil zum gewöhnlichen Aufenthalt für Leistungsberechtigte nach SGB II; Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II); für den dauerhaften, gewöhnlichen Aufenthalt ist eine polizeiliche Meldung nicht für den ganzen Zeitraum erforderlich

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) entscheidet, dass für den fünfjährigen Aufenthalt nach § 7 Abs. 1 S. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich, ein dauerhaftes Gemeldetsein hingegen nicht erforderlich ist.

§ 7 Abs. 1 S. 4 SGB II legt als Ausnahme von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fest, dass Ausländer*innen sowie ihre Familienangehörigen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.

Die Klägerin und der Kläger, ihr 2018 geborener Sohn, begehrten Leistungen nach dem SGB II vom 20.04.2020 bis zum 31.11.2020. Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hat seit ihrer Einreise nach Deutschland 2012 bis zu ihrer Schwangerschaft als Prostituierte gearbeitet. Sie war ab 2013 mit Unterbrechungen in Deutschland gemeldet, entscheidend war hier der Zeitraum ab dem 20.04.2015. Die Klägerin meldete sich zu dem Zeitpunkt bei den zuständigen Behörden. Vom 07.09.2016 bis zum 06.07.2017 bestand eine Meldelücke. Die Beklagte verweigerte aufgrund dieser Meldelücke die Leistungen mit der Begründung, dass ein fünfjähriges durchgängiges Gemeldetsein erforderlich sein würde und deshalb die Frist am 06.07.2017 erneut begann.

Das Sozialgericht Köln gab der Klage statt und verpflichtete die Beklagte, Leistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Dagegen legte die Beklagte Berufung ein.

In seiner Berufungsentscheidung setzt sich das LSG ausführlich mit den Voraussetzungen des gewöhnlichen Aufenthalts und der bisherigen Rechtsprechung zur Meldeerfordernis auseinander. Es kommt zum Ergebnis, dass der geforderte fünfjährige gewöhnliche Aufenthalt nicht mit einem dauerhaften Gemeldetsein gleichzusetzen ist. Der gewöhnliche Aufenthalt ist nach Maßgabe des § 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu bestimmen. Demnach ist der gewöhnliche Aufenthalt dort, wo sich die Person unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilt. Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ist weiter, dass der Aufenthalt zukunftsoffen ist und keine wesentlichen Unterbrechungen vorliegen, kurze Heimatbesuche sind insoweit unschädlich. Der faktische Schwerpunkt der Lebensverhältnisse muss dauerhaft im Inland sein. Ein fester Wohnsitz, die Anmietung einer Wohnung oder eine ordnungsbehördliche Anmeldung sind hingegen nicht erforderlich. Das Erfordernis einer durchgehenden Meldung ist laut LSG vom Wortlaut des Gesetzes ebenso wenig gedeckt wie von der Absicht des Gesetzgebers. Bei der Klägerin würden genügend Anhaltspunkte vorliegen, dass sie sich auch während der Meldelücke maßgeblich in Deutschland aufhielt, unter anderem habe sie in der Zeit ein Girokonto eröffnet. Auch wurden Kunden von ihr als Zeugen gehört, welche bestätigten, sie während der Zeit, in der die Meldelücke bestand, als Freier besucht zu haben.

Kernpunkte

Sozialleistungen, gewöhnlicher Aufenthalt, Meldeerfordernis, Prostitutierte

Entscheidung im Volltext:

lsg_14_06_2023 (PDF, 225 KB, nicht barrierefrei)

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