EuGH, Urteil vom 14.1.21
Aktenzeichen C-441/19

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren zur Rückführung unbegleiteter minderjähriger Drittstaatsangehöriger; Wohl des Kindes nach Art. 5a RL 2008/115/EG und Art. 24 Abs. 2 GRC; Pflicht der Mitgliedstaaten, sich vor Erlass einer Rückkehrentscheidung zu vergewissern, dass Minderjährige an Familienmitglieder, offizielle Vormünder oder geeignete Aufnahmeeinrichtungen im Rückkehrstaat übergeben werden; Anhörung der Minderjährigen zu Bedingungen im Rückkehrstaat; Prüfung geeigneter Aufnahmemöglichkeiten darf nicht allein anhand des Kriteriums des Alters erfolgen; kein Aufschub der Abschiebung bis zur Volljährigkeit, wenn Aufnahmemöglichkeiten gegeben und Rückkehrentscheidung erlassen

Zusammenfassung

Die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) betrifft hauptsächlich die Auslegung von Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), Art. 5a, 6, 8 und 10 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (RL 2008/115/EG), sog. Rückführungsrichtlinie.

Der EuGH hatte über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung des Staatssekretärs für Sicherheit und Justiz der Niederlande zu entscheiden, durch die eine unter 18-jährige, unbegleitete Person aus einem Drittstaat angewiesen wurde, die Europäische Union zu verlassen. Im Ergebnis legt der EuGH Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG in Verbindung mit Art. 5a RL 2008/115/EG und Art. 24 Abs. 2 GRC so aus, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einer unbegleiteten minderjährigen Person eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation der*des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen müssen. Die Mitgliedstaaten müssten sich vergewissern, dass für Minderjährige eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat zur Verfügung steht, d.h. ob sie einem Familienmitglied, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden können. Das Alter der Minderjährigen dürfe für die Prüfung nicht das alleinige Kriterium sein, d.h. eine gesetzlich unterschiedliche Behandlung von unter und über 15-jährigen stelle die gebührende Berücksichtigung des Kindeswohls nicht ausreichend sicher. Schließlich stellt der EuGH klar, dass Mitgliedstaaten bis zum Erreichen der Volljährigkeit der Minderjährigen nicht mehr von der Abschiebung absehen können, wenn sie eine Rückkehrentscheidung erlassen und geeignete Aufnahmemöglichkeiten festgestellt haben.

Zum Sachverhalt:

Der dem EuGH vorgelegte Fall betrifft TQ, einen unbegleiteten Minderjährigen, der in Guinea geboren ist und seit seinem jüngsten Alter zunächst bei seiner Tante in Sierra Leone gelebt hatte. Nach ihrem Tod kam er mit einem aus Nigeria stammenden Mann in Kontakt, der ihn nach Europa brachte. TQ gibt an, in Amsterdam Betroffener von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung geworden zu sein. Aus diesem Grund leide er unter schwerwiegenden psychischen Störungen. Im Juni 2017, im Alter von 15 Jahren und 4 Monaten, stellte TQ einen Antrag auf befristete Aufenthaltserlaubnis für Asylbewerber, den der Staatssekretär mit einem Bescheid vom März 2018 ablehnte. Zugleich genehmigte der Staatssekretär den vorläufigen Aufschub der Abschiebung für höchstens sechs Monate oder für einen kürzeren Zeitraum (für den Fall, dass das Büro für medizinische Beratung, Niederlande feststellt, dass der Gesundheitszustand eine Abschiebung erlaubt). Gegen den Bescheid legte TQ im April 2018 Klage ein. Mit Bescheid vom Juni 2018 wurde TQ zur Ausreise innerhalb von vier Wochen verpflichtet. Einen Aufschub der Abschiebung aus medizinischen Gründen gewährte der Staatssekretär nicht. TQ legte gegen den Bescheid Widerspruch ein, der im Mai 2019 abgelehnt wurde.

Vor dem vorlegenden Gericht erklärte TQ, dass er nicht wisse, wo seine Eltern wohnen und dass er sie bei seiner Rückkehr auch nicht wiedererkennen könne. Er kenne keine anderen Familienangehörigen und wisse nicht einmal, ob es Familienangehörige gebe. Er könne nicht in sein Herkunftsland zurück, weil er dort nicht aufgewachsen sei, dort niemanden kenne und dessen Sprache nicht spreche. Er betrachte die Pflegefamilie, bei der er in den Niederlanden wohne, als seine Familie.

Zur niederländischen Gesetzeslage:

Bei Prüfung des ersten Asylantrags, wenn kein Anspruch auf Flüchtlingsstatus oder auf subsidiären Schutz besteht, prüft die Behörde von Amts wegen, ob eine Aufenthaltserlaubnis befristet zu erteilen ist. Die Ablehnung eines Asylantrags gilt als Rückkehrentscheidung. Bei unbegleiteten Minderjährigen, die zum Zeitpunkt des Asylantrags unter 15 Jahre alt sind, ist die Behörde verpflichtet, zu untersuchen, ob eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat besteht. Ohne geeignete Aufnahmemöglichkeit wird ein regulärer Aufenthaltstitel erteilt. Wenn unbegleitete Minderjährige älter als 15 Jahre alt sind, wird erst der Asylantrag abgelehnt/Rückkehrentscheidung getroffen, bevor die Aufnahmemöglichkeiten geprüft werden.

Das vorlegende Gericht weist den EuGH darauf hin, dass der Staatssekretär bei über 15-jährigen unbegleiteten Minderjährigen abzuwarten scheine, bis die Jugendlichen 18 Jahre alt sind. Dann sei die Untersuchung geeigneter Aufnahmemöglichkeiten nicht mehr erforderlich. In diesem Zeitraum (Asylantrag bis Volljährigkeit) hielten sich unbegleitete Minderjährige, die älter als 15 Jahre sind, illegal in den Niederlanden auf, seien aber geduldet.

Rechtliche Würdigung des EuGH:

Der EuGH stellt zunächst klar, dass im Fall eines Minderjährigen nach Art. 5a RL 2008/115/EG das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen ist. Diese Erwägung sei nach Art. 24 Abs. 2 GRC bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen vorrangig. Bei der Beurteilung, ob er gegen einen unbegleiteten Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlässt, habe der Mitgliedstaat mehrere Gesichtspunkte gebührend zu berücksichtigen: insbesondere das Alter, das Geschlecht, die besondere Schutzbedürftigkeit, den physischen und psychischen Gesundheitszustand, die Unterbringung in einer Aufnahmefamilie, das Schulbildungsniveau und das soziale Umfeld.

Der EuGH stellt ferner klar, dass Rückkehrentscheidungen, ohne vorherige Vergewisserung, ob es für Minderjährige im Rückkehrstaat geeignete Aufnahmemöglichkeiten gibt, zur Folge hätten, dass sie trotz ergangener Rückkehrentscheidung nicht abgeschoben werden können, wenn keine geeigneten Aufnahmemöglichkeiten vorhanden sind. Minderjährige würden somit in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich ihrer Rechtsstellung und ihrer Zukunft versetzt, insbesondere in Bezug auf ihre Schulausbildung, ihre Verbindungen zu Pflegefamilien oder ihren Möglichkeiten, in dem betreffenden Mitgliedstaat zu bleiben. Eine solche Situation liefe dem Kindeswohl zuwider. Der EuGH macht deutlich, dass sich aus den Vorschriften ergibt, dass Mitgliedstaaten vor Erlass einer Rückkehrentscheidung konkret prüfen müssen, ob für unbegleitete Minderjährige im Rückkehrstaat geeignete Aufnahmemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Wenn keine geeignete Aufnahmemöglichkeit besteht, könne keine Rückkehrentscheidung ergehen. Zu den Pflichten der Mitgliedstaaten gehöre auch eine Anhörung der Betroffenen zu den Bedingungen, unter denen sie im Rückkehrstaat aufgenommen würden.

Bezüglich der niederländischen Gesetzeslage, nach der die Überprüfung von geeigneten Aufnahmemöglichkeiten für über 15-jährige Minderjährige erst nach einer Rückführungsentscheidung stattfindet, stellt der EuGH fest, dass bei der Umsetzung von Art. 6 RL 2008/115/EG (Rückkehrentscheidung) das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen sei – einschließlich das von Minderjährigen über 15 Jahren. Das Kriterium des Alters sei nicht das einzige, das bei der Prüfung, ob Aufnahmemöglichkeiten im Rückkehrstaat bestehen, zu berücksichtigen ist.

Schließlich stellt der EuGH klar, dass eine Abschiebung nicht bis zur Volljährigkeit aufgeschoben werden dürfe, wenn geeignete Aufnahmemöglichkeiten für die Minderjährigen bestünden und eine Rückkehrentscheidung ergangen sei.

Kernpunkte

Rückführung unbegleiteter minderjähriger Drittstaatsangehöriger; Wohl des Kindes; Prüfung geeigneter Aufnahmemöglichkeiten im Rückkehrstaat nicht nur anhand des Alters erfolgen; kein Aufschub der Abschiebung bis zur Volljährigkeit

 

Entscheidung im Volltext:

eugh_14_01_2021 (PDF, 288 KB, nicht barrierefrei)

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