VG Bremen, Beschluss vom 25.5.2023
Aktenzeichen 7 V 402/23

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für trans* Frau; umfangreiche Ausführungen zu EU-rechtlichen Anforderungen an Anhörungen von Betroffenen schwerer sexualisierter Gewalt; Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifisch Verfolgte; Missachtung der Vorgaben führt grundsätzlich zur Aufhebung des Bescheids

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) ordnet die aufschiebende Wirkung der Klage einer trans* Frau gegen eine Abschiebeanordnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an. Die Antragstellerin ist kosovarische Staatsangehörige, war 2022 nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt. In ihrem kosovarischen Personalausweis wurde sie als Mann bezeichnet, hat aber über ihren Prozessbevollmächtigten erklären lassen, sie sei trans* Frau.

Bei ihrer Anhörung vor dem BAMF hatte sie angegeben, sich seit ihrer Kindheit als Frau gefühlt zu haben, was sie auch offen ausleben wolle. Deshalb habe sie schon früh und oft Gewalt und sexualisierte Gewalt erfahren. Von ihren Brüdern sei sie nach dem Tod des Vaters aus dem Haus geschmissen worden. Die Vorfälle hätte sie den Behörden nicht gemeldet, da sie von dort keine Hilfe erwarte. Aufgrund der traumatischen Erfahrung sei sie auch im Kosovo schon in ärztlicher Behandlung gewesen.

Eine Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifisch Verfolgte wurde vom BAMF erst nach der Anhörung im Rahmen der Erstellung des Bescheides beteiligt, mit dem der Antrag abgelehnt und die Abschiebung angedroht wurde. Hiergegen erhob die Frau Klage und stellte einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Sie berief sich dabei insbesondere auf die Nichtbeteiligung eines*r Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifisch Verfolgte bei der Anhörung.

Das VG gibt ihrem Antrag statt, da es erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides habe, da die Anhörung vor dem BAMF unzureichend gewesen sei. Die Antragstellerin gehöre zum Personenkreis der Betroffenen von schwerer sexualisierter Gewalt, daher müsse ihre Anhörung den erhöhten Anforderungen des Art. 24 Abs.3 der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) und Art. 4 Abs.1 der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) genügen.

Das Gericht macht hierzu weitere Ausführungen. Insbesondere sei den Betroffenen zu ermöglichen, ihr Recht auf Begründung ihres Schutzbegehrens unbeeinträchtigt auszuüben. Dies erfordere umfassende Angaben zu erlittener Verfolgung. Um den Betroffenen die hierfür nötige Zeit und das Vertrauen zu gewähren, bedürfe es speziell geschulter Fachkräfte mit der nötigen Sensibilität für ein durch Traumatisierung und Scham geprägtes Aussageverhalten. Den Betroffenen solle ermöglicht werden, ihr Verfolgungsschicksal umfänglich zu schildern, um den Sachverhalt ausreichend aufklären und so evtl. negative Auswirkungen auf einen gegebenenfalls bestehenden Schutzanspruch vermeiden zu können.

Diesen Anforderungen würde die Anhörung der Antragstellerin nicht gerecht. Zum einen habe der Anhörer nicht über die erforderliche Qualifikation insbesondere bezüglich ihrer Schutzbedürftigkeit im Hinblick auf ihre sexuelle Ausrichtung und Geschlechtsidentität verfügt. Auch legt das Gericht anhand von Verweisen auf das Anhörungsprotokoll dar, dass es ihm an entsprechender Sensibilität gefehlt habe. Daher sei nicht auszuschließen, dass die Frau unter anderen Bedingungen ihre Angaben zu ihren sexuellen Gewalterfahrungen noch weiter ausgeführt hätte.

Der Richter weist außerdem darauf hin, dass die Antragstellerin nach Art. 15 der Asylverfahrensrichtlinie das Recht auf eine Übersetzungsperson eines bestimmten Geschlechts hätte.

Da der Anhörung im Asylverfahren eine besondere Bedeutung zukomme, führe ein Verstoß gegen die Vorgaben grundsätzlich zur Aufhebung. Das VG stellt außerdem unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16. Juli 2020 Aktenzeichen C-517/17 klar, dass dies auch gelte, wenn die fehlerhafte Anhörung die Entscheidung des BAMF nicht beeinflusst habe. Es sei nicht vertretbar, wenn das mit dem Rechtsbehelfsverfahren befasste Gericht die erlassene Entscheidung des BAMF ohne weitere Anhörung der Betroffenen bestätigen könne, obwohl diese unter Verstoß gegen die Vorgaben der Richtlinie erging. Dies würde die Wirksamkeit der Vorgaben der Richtlinien unterlaufen.

Kernpunkte

Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifisch Verfolgte

 

Entscheidung im Volltext:

vg_bremen_25_05_2023 (PDF, 87 KB, nicht barrierefrei)

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