Behshid und Radostina, wie schön, dass ihr heute mit mir auf 25 Jahre KOK zurückblickt. Lasst uns doch direkt eine Zeitreise ins Jahr 1999 machen. Behshid, Du hast den KOK mitgegründet. Was war der Anlass dafür?
Behshid: Der KOK wurde vor 25 Jahren offiziell als Verein eingetragen, aber die Arbeit begann schon vorher. Damals nannten wir uns „Koordinierungskreis gegen Frauenhandel“ und waren bei der Beratungsstelle agisra in Frankfurt angesiedelt. In den 1980er Jahren wurden vor allem Frauen aus Thailand und den Philippinen beraten, die als Heiratsmigrant*innen nach Deutschland kamen und hier oft in Gewaltverhältnissen landeten. Seit den 90 er Jahren haben wir jährlich Vernetzungstreffen mit anderen Fachberatungsstellen organisiert, um uns für die Rechte von Frauen und gegen Sextourismus zu engagieren. Später stellten wir fest, dass der Bedarf an bundesweiter Koordination so groß war, dass wir das es hier einer eigenen Organisation bedurfte. Deshalb wurde 1999 der KOK als Verein „Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess“ gegründet, um diese Vernetzung zu stärken und politische Arbeit zu intensivieren.
Warum war diese Vernetzung so wichtig?
Behshid: In einer Demokratie ist es entscheidend, dass Betroffene und ihre Unterstützer*innen Lobbyarbeit für ihre Rechte leisten. Je mehr Stimmen wir aus verschiedenen Beratungsstellen einbeziehen, desto stärker wird unser gemeinsames Auftreten. So schaffen wir es, mehr Gehör zu finden.
Radostina, Du hast währenddessen genickt. Möchtest Du das ergänzen?
Radostina: Ja, absolut. Vernetzung ist auch im Beratungsalltag unverzichtbar. Wenn ich beispielsweise eine Klientin aus Niedersachsen habe, die hier gefährdet ist, muss ich schnell Kontakt zu Partnerorganisationen in anderen Bundesländern aufnehmen, um sie sicher unterzubringen. Diese Vernetzung ermöglicht schnelle, lebensrettende Maßnahmen.
Behshid, Du hast gerade schon den Gründungsnamen des KOK genannt: „Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess“. Hat sich der Fokus damals vor allem auf Frauen konzentriert?
Behshid: Ja, und das tut er in vielen Bereichen auch heute noch. In den Beratungsstellen sehen wir, dass etwa über 90 % der Betroffenen Frauen sind. Der Begriff „Frauenhandel“ umfasste damals nicht nur sexuelle Ausbeutung, sondern auch andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist vielfältig, dazu gehört z.B. Zwangsabtreibung oder Verbot der Abtreibung, Zwangssterilisation, Zwangsverheiratung, weibliche Genitalbeschneidung, partnerschaftliche Gewalt und Femizide. Diese Themen standen damals noch kaum im öffentlichen Fokus.
Radostina: Das ist bis heute teilweise so!
Behshid: Vollkommen richtig. Erst 1993 wurde auf der Zweiten UN-Menschenrechtskonferenz in Wien offiziell festgehalten: Frauenrechte sind Menschenrechte. Das war ein Meilenstein! Heute wissen wir, dass auch nicht-binäre Menschen und trans* Personen sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, und der KOK hat sich in den letzten Jahren dafür geöffnet.
War das der Grund für die Umbenennung in „Koordinierungskreis gegen Menschenhandel“?
Behshid: Das war einer der Gründe. Der neue Name verdeutlicht, dass Menschenhandel alle Geschlechter betreffen kann. Damals lag der Fokus der Diskussion vor allem auf der Arbeitsausbeutung – einer Form des Menschenhandels, in der es mehr männliche Betroffene gibt als bei der sexuellen Ausbeutung. Bei agisra waren wir allerdings anfangs skeptisch. Wir befürchteten, dass der geschlechtsspezifische Fokus verloren gehen könnte. Glücklicherweise war das nicht der Fall.
Radostina: In der heutigen Zeit und mit dem Wissen um diversitätssensible Beratung ist es wichtig, den Begriff „Menschenhandel“ zu verwenden, um mehr Betroffene anzusprechen.
Wie hat sich das Phänomen Menschenhandel in den letzten 25 Jahren verändert?
Behshid: Seit 2005 ist auch Arbeitsausbeutung als eine Form des Menschenhandels anerkannt, und im Laufe der Jahre kamen neue Formen wie Organhandel und Zwangsbettelei hinzu. Der KOK hat maßgeblich dazu beigetragen, diese Themen politisch voranzubringen. Die Praxis zeigt, dass die Ausbeutung stattfindet, unabhängig davon, ob es einen offiziellen Straftatbestand gibt.
Radostina: Der KOK leistet hier wichtige Lobbyarbeit, insbesondere wenn es um die praktische Umsetzung von Gesetzen geht. Ein gutes Beispiel ist das Opferentschädigungsgesetz, bei dem der KOK viel Erfahrung eingebracht hat.
Behshid: Ein weiterer Erfolg war die Einführung der Bedenk- und Stabilisierungszeit im Aufenthaltsgesetz. Die Basis dafür war ein Erlass für Nordrhein-Westfalen, den wir in den 1990ern mit mehreren Beratungsstellen in Herne, Bochum und Köln erwirkt haben. Dieser besagte, dass Betroffene von Menschenhandel eine vierwöchige Duldung eingeräumt bekommen. Dieser Erlass wurde dann 2011 in die Bedenk- und Stabilisierungszeit § 59 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) umgewandelt. Heute haben Betroffene Anspruch auf eine mindestens dreimonatige Bedenk- und Stabilisierungsfrist, unabhängig davon, ob sie eine Aussage bei der Polizei gemacht haben oder nicht.
Radostina, was sind aktuell die Hauptanliegen des KOK und seiner Mitgliedsorganisationen?
Radostina: Wir möchten die Lebenssituation der Betroffenen verbessern und sicherstellen, dass sie qualitativ hochwertige Beratung erhalten. Eine große Herausforderung ist, dass Betroffene auf der Suche nach Unterstützung an Einrichtungen geraten, die missionarische Ziele verfolgen. Diese stellen nicht die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt – das ist aber nicht immer auf den ersten Blick erkennbar.
Was können wir tun, um Betroffene zu stärken?
Radostina: Prävention ist entscheidend, ebenso wie der Zugang zu anonymen und kostenlosen und bedarfsgerechten Hilfsangeboten. Dafür muss die Politik die Fachberatungsstellen finanziell absichern.
Behshid: Darüber hinaus brauchen wir auch Schulungen für Polizei und Justiz, damit Betroffene besser identifiziert werden. Fälle von Menschenhandel werden viel zu selten erkannt und Verfahren verlaufen oft, ohne die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen.
Was sind Eure Wünsche für die Zukunft?
Radostina: Ich wünsche mir, dass der KOK weiterhin besteht. Seine Unterstützung ist für unsere praktische Arbeit unverzichtbar.
Behshid: Der KOK soll pragmatisch und gleichzeitig visionär bleiben. Das war immer seine Stärke.
Ein schöneres Schlusswort hätte ich nicht wählen können. Danke euch!