Zum Internationalen Mädchentag am 11. Oktober 2022 hat der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eine Stellungnahme veröffentlicht. Der KOK schließt sich den Forderungen für Rechte und Sicherheit für alle Mädchen an.
Stellungnahme
Für die Rechte und die Sicherheit aller Mädchen - heute und jeden Tag!
Weltweit werden Mädchen in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt, in ihrer Sicherheit bedroht – weltweit kämpfen sie auf unterschiedlichste Weise und in unterschiedlichsten Kontexten gegen Hürden und Gefährdungen an. Unter ihnen sind Millionen von Mädchen, die zur Flucht gezwungen wurden, etwa aufgrund gewaltsamer Konflikte, aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt, aus ökonomischer Unsicherheit (von der wiederum Mädchen und Frauen spezifisch betroffen sind) oder aufgrund von Folgen des Klimawandels. Gemäß UNCHR sind derzeit 100 Millionen Menschen auf der Flucht, etwa die Hälfte davon sind Mädchen und Frauen, bzw. als weiblich gelesene Personen (Quelle). Während Deutschland und andere europäische Staaten oft eine Mitverantwortung für die verschiedenen Fluchtgründe tragen, schottet sich die EU gleichzeitig massiv ab und verstärkt durch die Illegalisierung von Flucht die Unsicherheit und das Leid auf den gefährlichen Routen. Immer wieder profilieren sich Deutschland und die EU als Verfechter*innen von Frauen- und Kinderrechten – die Verletzung ebendieser Rechte wird nicht selten auf ein „Anderswo“ projiziert. Gleichzeitig enden Erfahrungen von Rechtsverletzungen, Gewalt und eingeschränkter Teilhabe nicht nach der Flucht. Sie setzen sich häufig auch nach der Ankunft fort und sind für viele geflüchtete Mädchen in Deutschland Teil der alltäglichen Lebensrealität. Dabei überschneiden sich verschiedene Diskriminierungsformen – etwa Sexismus, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Adultismus und Klassismus. Zum Internationalen Mädchentag bekräftigen wir, dass diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe keinen Aufschub erlaubt: Die Verwirklichung von Teilhabegerechtigkeit und Sicherheit für alle Mädchen! Mädchentag ist intersektional, Mädchentag ist jeden Tag!
Sammelunterkünfte sind kein Ort für Kinder!
Viele Mädchen in Deutschland leben in Sammelunterkünften in einer prekären Situation. Ihre Bildungschancen, ihre gesundheitliche Sicherheit und ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe sind durch das isolierte Leben in der Gemeinschaftsunterkunft erheblich eingeschränkt. Der Mangel an zuverlässigen Gewaltschutzkonzepten bedroht Mädchen und junge Frauen im besonderen Maße. Das Leben in der Unterkunft bedeutet eine massive Beschneidung des Selbstbestimmungsrechts, etwa durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und durch die fehlende Privat- und Intimsphäre. Auf die Probleme durch die Unterbringung in den Unterkünften wird immer wieder hingewiesen, die Unvereinbarkeit mit den Standards der UN-Kinderrechtskonvention in diesem Kontext ist unzweifelhaft – und doch wurden bisher keine Konsequenzen gezogen. Gemeinschaftsunterkünfte sind kein Ort für geflüchtete Mädchen (und für niemanden sonst). Wir bekräftigen zum Internationalen Mädchentag: Sammelunterkünfte abschaffen – dezentrale Unterbringung ermöglichen!
Bildung gerecht gestalten!
Bildung ist ein Menschenrecht – doch vielfach wird der Zugang zu Bildung für geflüchtete Mädchen begrenzt oder erschwert, werden ihre Bildungsinteressen vernachlässigt, ihre Potentiale ignoriert. Bildungsungleichheiten haben sich im Kontext der Corona-Krise zu Lasten von geflüchteten jungen Menschen noch weiter verschärft. Ein Entgegensteuern ist damit noch dringlicher geworden! Zu den strukturellen Hindernissen gehören etwa fehlende Sprachförderung und unzureichend begleitete Übergänge von Klassen für Geflüchtete in Regelklassen. Auch Probleme bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse versperren Mädchen und jungen Frauen Teilhabemöglichkeiten – hier braucht es dringend Maßnahmen, um schnelle, verständliche und unbürokratische Verfahren der Anerkennung zu etablieren.
Hinzu kommen Unverständnis seitens Lehr- und Autoritätspersonen im Bildungsbereich für die belastenden Erfahrungen, Lebensumstände und teils enormen Drucksituationen, unter denen geflüchtete Mädchen stehen, sowie rassistisches, sexistisches, homo- und transfeindliches Verhalten im Bildungskontext. Dies kann einschneidende Auswirkungen auf die Bildungschancen der Mädchen – und damit letztlich für ihren Lebensweg im Allgemeinen – haben! Deshalb müssen Rassismuskritik, Gendersensibilität und intersektionale Perspektiven stärker verbindlichen Eingang in die Lehramtsausbildung erhalten. Zusätzlich müssen entsprechende Fortbildungsangeboten für Lehrkräfte entstehen bzw. ausgebaut werden. Geflüchtete Mädchen müssen von den Fachkräften in besonderer, rassismuskritischer und genderreflektierter Weise dabei unterstützt werden, ihren eigenen Bildungsweg zu finden und selbstbestimmt zu beschreiten.
Für ein Ankunftssystem, das Sicherheit und Perspektiven bietet!
Geschlechtsspezifische Fluchtursachen müssen in der Praxis endlich konsequent anerkannt werden und in jedem Fall zum Schutz und sicheren Aufenthalt von Mädchen und jungen Frauen führen. Geschlechtsspezifische Verfolgung ist als Fluchtgrund zwar theoretisch verankert, wird in der Praxis allerdings häufig nicht anerkannt. Seitens der Behördenmitarbeitenden fehlt es oft an Wissen und Sensibilität. Auch ist es notwendig, dass junge Frauen bedarfsgerecht und sensibel darüber informiert werden, dass sie diese Gründe überhaupt geltend machen können. Hierfür müssen niederschwellige, unabhängige, gender-, biographie- und diskriminierungssensible Beratungsangebote gestärkt und ausgebaut werden!
Es muss sichergestellt werden, dass besondere Schutzbedarfe erkannt werden, hierzu bedarf es eines klaren Konzepts zur Strukturierung der Zuständigkeiten. Weiterhin müssen die Verfahren selbst endlich menschenwürdig gestaltet werden. Im Rahmen von Verfahren wird den Mädchen und Frauen häufig abverlangt, belastende oder traumatische Erfahrungen detailliert zu beschreiben. Auch kommt es immer wieder zu einem unsensiblen bis hin zu einem verbal gewaltvollen und diskriminierenden Verhalten von Anhörer*innen gegenüber Mädchen und weiblich gelesenen Jugendlichen, darunter trans und nicht-binäre Jugendliche. Nötig ist in jedem Fall die Sicherstellung einer unabhängigen, altersgerechten, gender- und biographiesensiblen Begleitung während des gesamten Asylverfahrens durch entsprechend geschulte Fachkräfte.
Strukturen der Selbstorganisation und Teilhabe fördern!
Jedes Mädchen hat seine eigenen Stärken und Zukunftswünsche. Selbstorganisationen und Empowerment-Initiativen sind Räume, in denen sich geflüchtete Mädchen gegenseitig darin unterstützen, sich dieser bewusst zu werden, sie einzubringen, für sie zu kämpfen. Sie sind zudem Räume, die es den Mädchen ermöglichen, ihr Recht auf Teilhabe wahrzunehmen und Gesellschaft mitzugestalten. In einem gesellschaftlichen Kontext, der durch Ausschlüsse und Unsicherheiten gekennzeichnet ist, sind diese Räume von besonderem Wert. Auch leisten Selbstorganisationen bzw. selbstorganisierte Gruppen vielfach wichtige politische Informations- und Aufklärungsarbeit innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Diskurses. Es gilt diese selbstorganisierten Strukturen zu schützen und unbedingt die finanziellen Ressourcen zu ihrer (auch strukturellen) Förderung bereitzustellen! Gleichzeitig muss die vielfältige Expertise von Selbstorganisationen dringend systematisch in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Den Stimmen geflüchteter Mädchen muss zugehört werden – nicht nur heute, am Internationalen Mädchentag, sondern jeden Tag!