Verbot der Zwangsarbeit – Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention; Definition der Begriffe Zwangsarbeit und Leibeigenschaft; Abgrenzung von Zwangsarbeit zu akzeptabler Familienarbeit im Haushalt; Kontrolle durch psychischen Zwang; Verpflichtung der Staaten im Bereich Menschenhandel.
Fazit
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner Entscheidung "C. N. und V. gegen Frankreich" Frankreich wegen einer Verletzung von Artikel 4 EMRK verurteilt und damit seine bisherige Rechtsprechung im Bereich der Zwangsarbeit gefestigt und fortentwickelt. Der Gerichtshof liefert Kriterien zur Abgrenzung zwischen Zwangsarbeit einerseits und akzeptabler Haushaltstätigkeit im Rahmen familiärer Verhältnisse andererseits. Zudem stellt er klar, dass der Begriff "Zwang" weit auszulegen ist und auch psychische Aspekte erfasst. Erneut mahnt er die positive Staatenverpflichtung aus Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention an, effektive rechtliche und administrative Rahmenbedingungen zur Bekämpfung des Menschenhandels zu schaffen.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerinnen sind zwei aus Burundi stammende Schwestern; die 1978 geborene C. N. und die sechs Jahre jüngere V. Ihre Eltern wurden während des Bürgerkriegs in Burundi getötet, woraufhin die Schwestern 1993 ihr Heimatland verließen.
Durch Vermittlung ihres Onkels - einem früheren burundischen Minister - sowie ihrer Tante gelang es ihnen, in den Jahren 1994 und 1995 nach Frankreich zu kommen. Ihrer Tante wurde bei einem Familientreffen in Burundi die Personenfürsorge und die Vormundschaft für beide Schwestern übertragen.
In Nanterre (Paris) lebten die Schwestern bei ihrer Tante und ihrem Onkel sowie deren sieben Kindern, von denen eines schwerbehindert war.
An gemeinsamen Familienmahlzeiten waren die Schwestern nicht beteiligt. Vielmehr mussten sie räumlich getrennt im Keller des Hauses unter unhygienischen Verhältnissen leben. Ein Badezimmer war nicht vorhanden und die Mädchen waren gezwungen, ein nur behelfsmäßig eingerichtetes WC zu nutzen.
Der älteren Schwester, C. N., wurde zu keinem Zeitpunkt der Besuch einer Schule oder die Aufnahme einer Ausbildung erlaubt. Stattdessen musste sie sämtliche Hausarbeiten erledigen sowie den Garten pflegen. Darüber hinaus hatte sie sich um den schwerbehinderten Sohn zu kümmern, teilweise auch nachts. Obwohl C. N. 24 Stunden am Tag wie eine Hausangestellte behandelt wurde und keine freien Tage hatte, erhielt sie hierfür keinerlei Entlohnung. Die jüngere Schwester durfte die Schule besuchen und danach ihre Hausaufgaben machen. Im Anschluss daran musste sie ihrer Schwester bei der Hausarbeit helfen.
Beide Mädchen waren täglich und durchgängig körperlicher und psychischer Belästigung durch ihre Tante ausgesetzt. Insbesondere drohte die Tante den Schwestern regelmäßig, diese nach Burundi zurückzuschicken.
Im Jahr 1995 hatte die Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anzeige des Jugendamtes Ermittlungen aufgenommen. Nach einer Untersuchung durch die Abteilung Kinderschutz der Polizei wurden die Ermittlungen jedoch eingestellt.
1999 wurde die Staatsanwaltschaft Nanterre von einer Nichtregierungsorganisation erneut auf die Situation der Schwestern aufmerksam gemacht und leitete ein weiteres Ermittlungsverfahren ein.
Verlauf des Verfahrens in Frankreich
Im Laufe des Ermittlungsverfahrens wurde die diplomatische Immunität des Onkels, die dieser als UNESCO-Mitarbeiter besaß, und die seiner Ehefrau aufgehoben.
V. gab an, sich 1995 im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen aus Furcht vor Repressalien nicht den Behörden anvertraut zu haben.
Ein medizinisch-psychologisches Gutachten charakterisierte unter anderem die Erfahrungen der Mädchen als mentales Leid. Insbesondere hätten die Drohungen der Tante bei C. N. starke Angstgefühle und Gefühle der Verlassenheit hervorgerufen, da für sie die Drohung, nach Burundi zurückgeschickt zu werden, gleichbedeutend mit der Trennung von ihrer Schwester sowie dem eigenen Tod war.
Das Strafgericht Nanterre befand 2007 Tante und Onkel der Mädchen wegen Verstoßes gegen Artikel 225-14 des französischen Strafgesetzbuches für schuldig. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer einer Person unter Ausnutzung ihrer Verletzbarkeit oder Abhängigkeit Arbeits- oder Unterbringungsbedingungen zumutet, die mit der Würde des Menschen unvereinbar sind. Die Tante der Mädchen wurde darüber hinaus wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.
Das Berufungsgericht Versailles hob 2009 jedoch die Verurteilungen nach Artikel 225-14 des französischen Strafgesetzbuches auf und bestätigte allein die Verurteilung der Tante wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Tante musste eine Strafe von 1.500 Euro zahlen sowie Schmerzensgeld an V. in Höhe von 1 Euro (sic), was dem Antrag von V. entsprach. Die Staatsanwaltschaft legte keine Rechtsmittel ein.
2010 wies das Kassationsgericht die Revisionen der Mädchen sowie der Tante ab.
Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Die Schwestern erhoben 2009 Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Beide Beschwerdeführerinnen machten eine Verletzung von Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot von Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit) geltend. Zudem wurde eine Verletzung von Artikel 13 der EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) vorgetragen, da keine effektiven Ermittlungen in Frankreich stattgefunden hätten. V. stützte die Beschwerde zudem auf Artikel 3 EMRK (Folterverbot), da sie erniedrigenden Behandlungen durch ihre Tante ausgesetzt gewesen sei.
Die französische Regierung erachtete die Beschwerde insgesamt als unbegründet. Insbesondere sei bei beiden Mädchen der Tatbestand der „Zwangsarbeit“ nicht erfüllt; im Übrigen seien Ermittlungs- und Strafverfahren ordnungsgemäß verlaufen.
Die Nichtregierungsorganisation AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) wurde als Drittintervenient vom EGMR zugelassen. In seiner Stellungnahme vertrat das AIRE Centre die Auffassung, maßgebliches Kriterium aller Formen von Ausbeutung im Sinne des Artikels 4 EMRK sei das Element der „Kontrolle“ über die Person. Diese Kontrolle könne auch psychisch stattfinden, was bei V. der Fall gewesen sei.
Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof hat eine Verletzung von Artikel 3 EMRK verneint, da die Tante wegen gefährlicher Körperverletzung und zur Zahlung des von V. geltend gemachten Schmerzensgeldes verurteilt wurde.
Sodann hat der Gerichtshof erörtert, inwieweit der Fall vom Anwendungsbereich des Artikels 4 erfasst ist. Er hat klargestellt, dass das Verbot der Zwangsarbeit einen grundlegenden Wert demokratischer Gesellschaften darstellt. Zwangsarbeit liege dann vor, wenn jemand gegen seinen Willen unter Androhung irgendeiner Strafe zu einer Arbeit gezwungen wird. Aufbauend auf seiner bisherigen Rechtsprechung präzisiert der Gerichtshof die Definition des Zwangsarbeitsbegriffs.
Abgrenzung von Zwangsarbeit zu akzeptabler Familienarbeit im Haushalt
Der EGMR hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Voraussetzungen eine Haushaltstätigkeit im familiären Bereich eine Form von Zwangsarbeit darstellen kann. Dabei stellt er darauf ab, ob die erbrachten Haushaltstätigkeiten als Teil wechselseitiger familiärer Hilfe vernünftigerweise erwartet werden können oder ob sie eine unverhältnismäßige Belastung darstellen. Maßgebliche Kriterien für diese Abgrenzung sind die Art und der Umfang der zu erbringenden Tätigkeiten.
In Bezug auf V. hat der Gerichtshof das Vorliegen von Zwangsarbeit verneint. Ihr wurden der Schulbesuch und die Erledigung von Hausaufgaben ermöglicht und insgesamt waren die von ihr im Haushalt erbrachten Tätigkeiten nicht unverhältnismäßig.
Im Fall der älteren Schwester hingegen wurde von "Arbeit" ausgegangen C. N. konnte keine schulische Ausbildung neben der Hausarbeit wahrnehmen. Ohne ihre Arbeitskraft hätten ihre Tante und ihr Onkel auf eine gewerbliche Haushaltshilfe zurückgreifen müssen.
"Zwang" umfasst auch psychischen Druck
Hinsichtlich des "Zwangs"-Elements hat der Gerichtshof näher ausgeführt, was unter der Androhung einer Strafe zu fassen ist. Der Begriff der Strafe ist hierbei weit auszulegen und erfasst auch psychische Aspekte. Aus der Sicht von C. N. stelle die Androhung, nach Burundi zurückgeschickt zu werden, eine Strafe in diesem Sinne dar.
Im Fall von V. wurde neben dem „Arbeits“- auch das „Zwangs“-Element verneint, da nicht nachgewiesen wurde, dass die Misshandlungen im Zusammenhang mit der Haushaltstätigkeit standen.
Vorliegen von Leibeigenschaft
Aufbauend auf seiner Rechtsprechung in den Fällen "Van Droogenbroeck gegen Belgien" sowie "Siliadin gegen Frankreich" definiert der EGMR Leibeigenschaft als eine gesteigerte Form der Zwangsarbeit, bei der es der betroffenen Person unmöglich ist, ihre Situation zu ändern.
Vorliegend wurde bezüglich C. N. Leibeigenschaft bejaht, da aus ihrer Sicht die Situation ausweglos war und eine Flucht zwingend die Rückkehr nach Burundi und den Tod bedeutet hätte.
Im Hinblick auf V. ist Leibeigenschaft demgegenüber nicht angenommen worden, da diese unter anderem aufgrund des Schulbesuchs weit weniger isoliert lebte.
Staatenverpflichtungen aus Artikel 4 EMRK
Schließlich hat sich der Gerichtshof mit den aus Artikel 4 EMRK folgenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auseinandergesetzt. Unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung unterscheidet der EGMR einerseits zwischen der (verfahrensrechtlichen) Verpflichtung, mögliche Fälle von Zwangsarbeit effektiv zu untersuchen und andererseits der positiven Verpflichtung, rechtliche und administrative Rahmenbedingungen zur Bekämpfung von Zwangsarbeit und Leibeigenschaft zu schaffen.
Bezüglich der Verpflichtung zur effektiven Falluntersuchung ist Frankreich im vorliegenden Fall seinen Verpflichtungen nachgekommen. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens im Jahr 1995 wurde nicht beanstandet, da die Strafverfolgungsbehörden aufgrund der damaligen Aussagen der Schwestern in vertretbarer Weise das Verfahren eingestellt hätten, zumal die Misshandlungen und die Ausbeutung zum damaligen Zeitpunkt erwiesenermaßen noch nicht den späteren Umfang erreicht hatten. Aus demselben Grund hat der Gerichtshof eine mögliche Verletzung von Artikel 13 EMRK nicht näher geprüft.
Der französische Staat hat es aber unterlassen, effektive rechtliche und administrative Rahmenbedingungen zur Bekämpfung von Zwangsarbeit und Leibeigenschaft zu schaffen und hierdurch Artikel 4 EMRK verletzt. Der EGMR hat festgestellt, dass diese Rahmenbedingungen seit dem Urteil im Fall „Siliadin gegen Frankreich“ nicht signifikant verbessert wurden, obwohl bereits damals ein Verstoß gegen Artikel 4 EMRK festgestellt worden war. Trotz der damaligen Feststellung des Gerichtshofs, dass die maßgeblichen Bestimmungen in Artikel 225-13 und 225-14 des französischen Strafgesetzbuches in der Praxis keinen wirksamen, effektiven Schutz bieten, sind in der Zwischenzeit keine entsprechenden Gesetzesänderungen erfolgt. Zudem hat es die Generalstaatsanwaltschaft (wie im Siliadin-Fall) versäumt, Revision gegen den teilweisen Freispruch durch das Berufungsgericht einzulegen.
Entscheidung im Volltext:
EGMR_11_10_2012 (PDF, 382 KB, nicht barrierefrei, Französisch)