BVerfG, Urteil vom 24.7.2013
Aktenzeichen 1BvR 444/13, 1 BvR 527/13

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im Verfassungsgerichtsverfahren; Bundesverfassungsgericht bekräftigt Grundsätze, die Strafgerichte bei der Beurteilung von Kritik an öffentlichen Stellen zu berücksichtigen haben; das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit

Zusammenfassung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hebt die strafrechtliche Verurteilung von Mitarbeitern des Flüchtlingsrates Brandenburg auf. Der Flüchtlingsrat hatte anlässlich des Antidiskriminierungstages dem Rechtsamt der Stadt Brandenburg und einer namentlich genannten Sachbearbeiterin einen im Internet veröffentlichten `Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus´ verliehen. Begründet wurde dies damit, die Sachbearbeiterin habe wider besseren Wissens einem Flüchtling die Vortäuschung einer, fachärztlich bestätigten, Gehörlosigkeit unterstellt. Um in einem Verwaltungsgerichtsverfahren Gründe für eine Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vorbringen zu können, habe die Sachbearbeiterin in ihrer Stellungnahme absichtlich Fakten ignoriert. Das Amtsgericht hatte die verantwortlichen Mitarbeiter wegen übler Nachrede zu Lasten der Sachbearbeiterin zu Geldstrafen verurteilt. Die im `Denkzettel´ aufgestellte Tatsachenbehauptung, die Sachbearbeiterin habe in ihrer Stellungnahme bewusst Tatsachen gegenüber dem Verwaltungsgericht verschwiegen, sei nicht erweislich wahr. Die Mitarbeiter hätten bei sorgfältiger Recherche erkennen können, dass der Sachbearbeiterin die ärztlichen Stellungnahmen zur Gehörlosigkeit des Flüchtlings nicht vorgelegen hatten und sie somit nicht absichtlich Fakten ignoriert habe.

Das Landgericht hatte die Berufung wegen offensichtlicher Unbegründetheit nicht zur Entscheidung angenommen. Es ging insbesondere davon aus, dass bei dem `Denkzettel´ die Diffamierung der betroffenen Sachbearbeiterin im Vordergrund gestanden habe und dass ehrverletzende Äußerungen nicht in legitimer Weise zur Meinungsbildung beitragen können.

Das BVerfG stellt fest, dass durch diese Entscheidungen die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Meinungsfreiheit verletzt werden. Die Gerichte waren unzutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei der infrage stehenden Äußerung um eine Tatsachenbehauptung und nicht um eine, dem Schutz der Meinungsfreiheit unterstehenden, Meinungsäußerung gehandelt habe. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Kern nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, kommt es auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an. Wenn im Einzelfall eine Differenzierung zwischen den tatsächlichen und den wertenden Teile einer Äußerung nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden.

Das LG hat außerdem nach Ansicht des BVerfG die vorliegend infrage stehende  Aussage unzutreffend als Schmähkritik eingestuft. Sie sei vielleicht überzogen gewesen, aber die Diffamierung der Sachbearbeiterin habe nicht im Vordergrund gestanden, sondern es habe noch ein Bezug zur Sache bestanden.

Das BVerfG führt weiter aus, dass beide Gerichte der Meinungsfreiheit nicht genügend Bedeutung beigemessen haben. Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch hart kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit und ist bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen. Auch war das Maß der Ehrverletzung der Sachbearbeiterin nicht so hoch, dass diese im vorliegenden Fall die Meinungsfreiheit überwiegen könnte. Insbesondere erlaubt es die Meinungsfreiheit nicht, die Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihnen so ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

 

Entscheidung im Volltext

bverfg_24_07_2013_01.pdf

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