VG Osnabrück, Entscheidung vom 3.2.2015
Aktenzeichen 5 A 74/14

Stichpunkte

Interessante Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Entzug des Freizügigkeitsrecht für Bulgarin mit Menschenhandelshintergrund; Ausführungen zu den Anforderungen an die Ermessensausübung bei Entzug des Freizügigkeitsrechts insbesondere im Hinblick auf mögliche Eingliederungsschwierigkeiten wegen Traumatisierung

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht Osnabrück erklärt einen Bescheid der Ausländerbehörde, mit dem der bulgarischen Klägerin das Freizügigkeitsrecht entzogen wurde, für rechtswidrig. Die Ausländerbehörde hatte den Entzug des Freizügigkeitsrechts damit begründet, dass die Frau weder eine Arbeitsstelle noch eine Arbeitssuche nachgewiesen habe und Hartz IV-Leistungen beziehe. Die Klägerin war August 2012 nach Deutschland eingereist. Sie war von ihrem Vater in Bulgarien an Zuhälter verkauft und von diesen in Deutschland zur Prostitution gezwungen worden. Im Oktober 2013 wurde sie im Rahmen einer Razzia von der Polizei in einem Bordell angetroffen und als potentielles Menschenhandelsopfer eingestuft. Zur Überprüfung ihres Freizügigkeitsrechts forderte die Ausländerbehörde die Klägerin auf, ihre Arbeitnehmerinneneigenschaft bzw. Arbeitssuche zu belegen. Im Januar 2014 erhielt die Klägerin eine Pfändungsverfügung des Finanzamtes für geschuldete Steuer auf Einnahmen aus der Prostitution. Der Anwalt der Klägerin teilte dem Finanzamt mit, dass die Klägerin als Menschenhandelsopfer nach Deutschland gekommen sei und zwangsweise in der Prostitution gearbeitet habe. Ihre gesamten Einnahmen aus der Prostitution habe sie an die Täter abgeben müssen. Ebenfalls im Januar 2014 entzog die Ausländerbehörde der Frau das Freizügigkeitsrecht, da sie weder eine Arbeitsstelle noch Arbeitssuche nachgewiesen und Hartz IV-Leistungen beantragt habe und forderte sie zur Ausreise bis Ende Februar auf. Bei der Ausübung ihres Ermessens bezog die Ausländerbehörde sich zum Einen auf die in Bulgarien lebenden Kinder der Frau. Zu diesen wolle sie auch nach eigenen Angaben irgendwann zurück kehren. Außerdem sei der Bezug von Hartz IV-Leistungen zu berücksichtigen. Die Frau erhob Klage gegen den Bescheid. Sie legte ein Attest ihres Psychiaters über eine Traumatisierung aufgrund von Misshandlungen und Vergewaltigungen durch den Vater sowie die Geschehnisse im Zusammenhang mit ihrer zwangsweisen Prostitution vor. Außerdem attestierte der Arzt eine Intelligenzminderung, Entwicklungsverzögerung sowie eingeschränkte Erwerbsfähigkeit. Die Staatsanwaltschaft hatte im März 2014 mitgeteilt, dass ein Aufenthalt der Klägerin als Zeugin in  einem eventuellen Verfahren gegen die Zuhälter nicht erforderlich sei. Ihre Aussagen seien zu widersprüchlich und sie könne im Übrigen bei Bedarf auch aus dem Ausland geladen werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im August 2014 den Asylantrag der Klägerin abgelehnt, jedoch ein Abschiebeverbot eingeräumt und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 Aufenthaltsgesetz erteilt. Das Gericht legt in seiner Entscheidung zum Einen seine Zweifel an der Einschätzung der Behörde dar. Bei der Prüfung des Freizügigkeitsrechts sei weder berücksichtigt worden, dass die Klägerin vom Finanzamt offensichtlich als selbstständige Prostituierte eingestuft worden sei, noch dass sie dieser Tätigkeit eventuell zwangsweise nachgegangen sei. Auch ihr psychischer Zustand sowie eine eventuelle Erwerbsunfähigkeit sei nicht ausreichend gewürdigt worden. Unabhängig von diesen Bedenken habe die Beklagte aber auch ihr Ermessen gem. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Bei der Abwägung des Interesses der Klägerin am Verbleib in Deutschland gegen das der Bundesrepublik Deutschland an einer Aufenthaltsbeendigung sei es im Wesentlichen um die in Bulgarien lebenden Kinder und den Leistungsbezug der Klägerin gegangen. Allein der Bezug von Leistungen rechtfertige den Entzug des Freizügigkeitsrechts aber nicht. Insbesondere die psychische Situation der Klägerin und eine mögliche Erwerbsunfähigkeit und daraus resultierende Eingliederungsschwierigkeiten in Bulgarien seien nicht erwogen und die besondere Bedeutung des Freizügigkeitsrechts sei nicht erörtert worden. Dass diese Punkte teilweise erst nach Erlass des Bescheides bekannt wurden, sei unerheblich, da die Ausländerbehörde während des gesamten Verfahrens verpflichtet sei, die Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahme zu überprüfen. Das Gericht hebt daher den Bescheid auf. Eine Berufung lässt es nicht zu.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_osnabrueck_03_02_2015 (PDF, 364 KB, nicht barrierefrei)

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