EGMR, Urteil vom 4.11.2014
Aktenzeichen 29217/12 `Tarakhel gegen die Schweiz´

Stichpunkte

Wichtige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Beschwerdeverfahren gegen Dublin-Überstellung einer afghanischen Familie nach Italien; Asylsuchende mit minderjährigen Kindern besonders schutzwürdig; Behörden haben dafür Vorkehrungen zu treffen, dass im Aufnahmestaat tatsächlich eine dem Alter und den Bedürfnissen der Kinder angemessene Unterkunft gewährt wird, sonst Verstoß gegen Art. 3 EMRK

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner sogenannten `Tarakhel-Entscheidung´ festgestellt, dass die Dublin-Überstellung einer afghanischen Familie nach Italien eine Verletzung von Art. 3 Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK,Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) darstellt. Die Beschwerdeführer sind ein afghanisches Ehepaar mit 6 minderjährigen Kindern zwischen 2 und 15 Jahren. Die Familie kam über Italien in die Schweiz. Sie waren bereits in Italien registriert worden, hatten Italien aber aufgrund der für Flüchtlinge schwierigen Situation verlassen und zunächst in Österreich und dann in der Schweiz Asyl ersucht. Ihr Asylantrag wurde wegen Unzuständigkeit in der Schweiz nicht angenommen und die Rücküberstellung nach Italien angedroht. Dabei gaben die Behörden an, dass die schwierige Situation in Italien einer Abschiebung nicht entgegenstünde und es keine Hinweise gäbe, dass der Familie dort Gefahr drohe. Nachdem ihre Beschwerden hiergegen abgewiesen worden waren, wandte die Familie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen unmenschlicher Behandlung (Art 3 EMRK) und Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK).

Der EGMR führt aus, dass Italien sich zwar um eine Verbesserung der Lage für die Flüchtlinge bemühe, viele Tausend seien aber immer noch obdachlos. Aufgrund dieser schlechten Aufnahmesituation würde eine Abschiebung ohne vorherige detaillierte und verlässliche Informationen zur Unterbringung der Familie eine unmenschlichen Behandlung gem. Art. 3 EMRK darstellen. Asylsuchende stellten eine besonders unterprivilegierte und verletzliche Gruppe dar, die des speziellen Schutzes nach Art. 3 EMRK bedürfen. Dies gelte insbesondere für Kinder unabhängig davon, ob sie in Begleitung ihrer Eltern seien. Die Befürchtung der Familie, nach ihrer Abschiebung in Italien keine Unterbringung zu finden, sei angesichts verschiedener Studien zu den Lebensbedingungen von Flüchtlingen dort begründet. Auch wenn die italienische Regierung angegeben habe, dass sie Familien mit Kindern zu der besonders schutzbedürftigen Gruppe zählen würden, sei nicht dargelegt worden, welche konkreten Hilfsmaßnahmen diesen gewährt werden. Vor einer Abschiebung müssten die schweizerischen Behörden daher ganz individuell sicherstellen, dass für die Familie eine dem Alter und den Bedürfnissen der Kinder angemessene Unterbringung zur Verfügung steht und dass die Familie zusammen bleiben kann.

Einen Verstoß gegen Art 13 EGMR sah der Gerichtshof nicht gegeben.

Entscheidung im Volltext:

Egmr_04_11_2014_deutsche_uebersetzung (PDF, 55 KB, nicht barrierefrei)

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