VG München, Urteil vom 3.11.2017
Aktenzeichen M 18 K 16.51084

Stichpunkte

Positive Entscheidung im erstinstanzlichen Verwaltungsgerichtsverfahren um Schutz vor Dublin-Abschiebung nach Italien für nigerianisches Menschenhandelsopfer, die aber im Folgeverfahren aufgehoben wurde; zur Situation nigerianischer Menschenhandelsopfer und mafiöser Täterstrukturen in Italien; zur Glaubwürdigkeit bei Offenbarung der Menschenhandelsgeschichte erst bei Beratungsstelle und zur Wirkung des Voodoo-Schwurs; Ermessensreduzierung bei Selbsteintrittsrecht

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für die Klägerin Abschiebeschutz hinsichtlich Italiens festzustellen.

Die Klägerin ist Nigerianerin aus Benin-City. Sie hatte im Juni 2016 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. In ihrer Anhörung hatte sie angegeben, 2008 von Nigeria über Libyen zunächst nach Italien gereist zu sein. Dort habe sie 8 Jahre gelebt, bevor sie nach Deutschland gekommen sei.

Da es einen EURODAC-Treffer für Italien gab, stellte das BAMF ein Wiederaufnahmegesuch an Italien, das unbeantwortet blieb. Das BAMF lehnte den Asylantrag der Klägerin ab und drohte Abschiebung nach Italien an, das für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. In ihrem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage, trug die Bevollmächtigte vor, die Klägerin sei laut der Beratungsstelle Solwodi in Italien als Opfer von Menschenhandel 4 Jahre zur Prostitution gezwungen worden, um angebliche Schulden abzubezahlen. Im Falle einer Rückkehr sei sie gezwungen, dort wieder als Prostituierte zu arbeiten.

In der mündlichen Verhandlung erzählte die Klägerin, wie sie unter falschen Versprechungen und unter Anwendung von Voodoo-Zauber nach Italien gebracht und dort in Florenz zur Prostitution gezwungen worden sei. Ihr sei 2012 die Flucht gelungen und sie habe eine Zeit in einer Schutzeinrichtung wohnen können. Als dort nach einem Jahr kein Platz mehr für sie gewesen sei, habe sie versucht, in Turin zu leben, sei aber von Leuten der Madame gefangen und wieder nach Florenz gebracht und zur Prostitution gezwungen worden. 2015 habe sie erneut fliehen und nach Deutschland reisen können. Dort sei ihr Asylantrag abgelehnt worden, so dass sie wieder nach Turin gereist sei, wo sie erneut von Leuten der Madame gefunden und zur Prostitution gezwungen worden sei. Sie sei schwanger geworden und die Madame habe sie zur Einnahme einer Schwangerschaftsabbruchtablette gezwungen. Als sie starke Blutungen bekam, habe die Madame sie auf die Straße gebracht. Daraufhin sei sie wieder nach Deutschland gereist.

Das VG glaubt der Klägerin ihre Schilderungen und stellt ein Abschiebeverbot fest, da ihr in Italien konkrete Gefahr für Leib und Leben drohe, indem sie zur Prostitution gezwungen würde. Das Gericht legt dar, dass diese Gefahr auch konkret drohe, da die Klägerin bereits 2 Mal trotz längerer Abwesenheit von Leuten der Madame gefunden und wieder zur Prostitution gezwungen worden sei.

Das Gericht beruft sich auf weitere Erkenntnismittel zum florierenden Menschenhandel in Italien insbesondere mit Frauen aus Nigeria. Der Umstand, dass die Klägerin ihre Menschenhandelsgeschichte nicht in der Anhörung, sondern zunächst bei Solwodi und dann auch vor Gericht vorgebracht hätte, spräche nicht, wie sonst im Asylverfahren üblicherweise angenommen, gegen ihre Glaubwürdigkeit, sondern stütze diese vielmehr. Unter Verweis auf verschiedene Quellen, legt das Gericht die Vorgehensweise der nigerianischen Menschenhändlerringe dar, unter Einsatz von Voodoo das Stillschweigen  der Frauen zu erzwingen. Der Glaube der Klägerin an den Voodoo-Zauber und ihre Angst davor sei nur durch Spezialisten zu entkräften gewesen.

Die Bedrohung der Klägerin bestehe auch landesweit in Italien, da sie, wie ihr wiederholtes Auffinden durch die Menschenhändler*innen zeige, Opfer eines weit verzweigten Netzwerkes geworden sei. Das Gericht bezieht sich auf weitere Erkenntnisquellen zu den verzweigten mafiösen Strukturen der Menschenhändlerringe.

Aufgrund der fehlenden Unterstützung für Flüchtlinge in Italien und ohne familiäre Hilfe, sei die Klägerin gezwungen, sich mit anderen zusammenzuschließen, was die Gefahr der Entdeckung durch die Menschenhändler*innen verstärke.

Da eine Abschiebung in das eigentlich zuständige Italien daher nicht möglich sei, reduziere sich das Ermessen des BAMF zum Selbsteintritt gemäß § 17 Absatz 1 Dublin III-Verordnung auf Null.

 

Diese Entscheidung wurde vom Verwaltungsgerichtshof München (VGH) durch Beschluss vom 8. März 2019 ( AZ. 10 B 18.50031) wieder aufgehoben mit der Begründung, dass gemäß Art. 3 Abs. 2, S.2 der Dublin-III-VO hätte geprüft werden müssen, ob ein anderer Mitgliedstaat als Italien vorrangig zuständig gewesen und als Zielland einer Abschiebung in Betracht gekommen wäre, daher bestehe kein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Italiens.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_muenchen_03_11_2017 (PDF, 113 KB, nicht barrierefrei)

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