EGMR, vom 21.1.2011
Aktenzeichen 30696/09

Stichpunkte

Herausragende Entscheidung im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um Menschenrechtsverletzungen im Asylverfahren; Abschiebung eines Afghanen von Belgien nach Griechenland verstößt gegen Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und das Recht auf wirksame Beschwerde; ca. 38.000 € Entschädigung

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt fest, dass die Abschiebung eines Afghanen von Belgien nach Griechenland gegen Art. 3 (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt und spricht dem Beschwerdeführer Entschädigung zu.

Der Beschwerdeführer war 2008 aus Kabul über den Iran und die Türkei nach Griechenland und von dort bis Belgien gereist. Im Februar 2009 hatte er in Belgien Asyl beantragt. Er gab an, aus Afghanistan geflohen zu sein, nachdem die Taliban versucht hatten, ihn wegen seiner Tätigkeit als Übersetzer für ausländische Truppen zu ermorden. Da er über Griechenland in die EU eingereist war, überstellte Belgien ihn nach der Dublin II-Verordnung zur Durchführung des Asylverfahrens nach Griechenland. Dort wurde er, nach seinen Angaben, inhaftiert und unter unmenschlichen Bedingungen in eine Zelle gesperrt. Nach seiner Entlassung lebte er monatelang obdachlos und ohne Unterhalt auf der Straße.

Der Gerichtshof macht umfassende Ausführungen zur Praxis des griechischen Asylverfahrens sowie den Lebensumständen der Asylbewerber*innen in Griechenland.

Der EGMR stellt fest, dass die Umstände, unter denen der Beschwerdeführer in Griechenland in Haft genommen wurde, sowie die Lebensbedingungen, denen er in Griechenland ausgesetzt war, eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK darstellen.

Außerdem registrierten die Richter*innen eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) durch Griechenland aufgrund der Mängel des dortigen Asylverfahrens im Fall des Beschwerdeführers.

Belgien wurde wegen der Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland verurteilt, weil dieser dadurch dem mangelhaften griechischen Asylsystem und den dortigen Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt war.

Der EGMR erklärt, dass ein EU-Mitgliedstaat zwar grundsätzlich von der Annahme ausgehen darf, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen aus der EMRK erfüllen. Im Fall des Beschwerdeführers hätte Belgien jedoch erkennen müssen, dass er in Griechenland kein wirksames Asylverfahren bekommen und dort unmenschlichen Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt sein würde.

Da Belgien dem Betroffenen keinen effektiven einstweiligen Rechtsschutz gegen seine Abschiebung gewährt hatte, verletzte es außerdem sein Recht auf wirksame Beschwerde nach Artikel 13 EMRK.

Griechenland muss dem Beschwerdeführer 1.000 Euro Schmerzensgeld und 4.725 Euro für die ihm entstandenen Kosten, Belgien 24.900 Euro Schmerzensgeld und 7.350 Euro Schadenersatz zahlen.
 

Egmr_21_01_2011, englisch (PDF, 553 KB, nicht barrierefrei)

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