LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3.7.2020
Aktenzeichen L 8 SO 73/20 B ER

Stichpunkte

Interessante Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz im Sozialgerichtsverfahren um Sozialleistungen für bulgarische Prostituierte; für Vorliegen eines Daueraufenthaltsrechts und einer Ausnahme vom Leistungsausschluss ist Einzelfall zu prüfen; keine lückenlosen Meldeeinträge zum Nachweis eines fünfjährigen Aufenthalts erforderlich

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht spricht einer Bulgarin im einstweiligen Rechtsschutz vorläufige Hartz-IV-Leistungen zu. Die Frau lebt nach ihren Angaben seit 2010 in Deutschland, wo sie mehrere Jahre als Prostituierte arbeitete. In Bulgarien leben zwei ihrer drei Kinder, ein Sohn arbeitet in Deutschland. Ihr waren 2019 Hartz-IV-Leistungen gezahlt worden, eine Weiterbewilligung wurde jedoch abgelehnt, ebenso ihr Widerspruch hiergegen. Die Frau machte geltend, zwar keine durchgehenden Meldebestätigungen zu haben, aber ihre durchgehende Arbeit in der Prostitution unter anderem durch Zeugenaussagen belegen zu können.

Im September 2019 stellte sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der jedoch vom Sozialgericht (SG) abgelehnt wurde, da ein fünfjähriger Aufenthalt aufgrund der lückenhaften Meldebestätigungen nicht nachgewiesen sei, so bestünde von Ende 2014 bis Mitte 2017 eine Lücke. Auch weitere Angaben seien widersprüchlich oder lückenhaft, so dass kein ununterbrochener Aufenthalt und damit auch kein Daueraufenthaltsrecht aus § 4a Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) gegeben sei. Dies stünde einem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Sozialgesetzbuch (SGB II) entgegen.

Die Frau beantragt daraufhin Ende März 2020 existenzsichernde Leistungen und macht geltend, sie sei seit 2010 in Deutschland als Prostituierte tätig, daher stünde ihr ein Daueraufenthaltsrecht zu. Als Prostituierte könne sie coronabedingt nicht arbeiten, ebenso wenig könne sie deswegen nach Bulgarien ausreisen.

Zum Überleben müsse sie sich Geld leihen, außerdem sei sie aufgrund eines Räumungsbeschlusses von Wohnungslosigkeit bedroht.

Das SG lehnte den Antrag ab.

Das LSG stellt auf die Beschwerde der Frau fest, dass das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt habe. In ihrem Fall sei das Eingreifen eines Leistungsausschlusses nicht überwiegend wahrscheinlich, da das Vorliegen eines Daueraufenthalts, der einem Leistungsausschluss entgegenstünde, möglich sei. Hierzu sei im Einzelfall zu prüfen, ob über den erforderlichen Zeitraum von fünf Jahren ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland bestanden habe. Dies könne nachgewiesen werden durch Meldebestätigungen, Verträge mit Energieversorgern, Mietverträgen etc. Dabei weist das LSG auf Besonderheiten im Bereich der Prostitution hin, wo die Zimmer z.B. nur kurzfristig und ohne Mietvertrag vermietet würden, was durchgängige Meldeeinträge erschwere.

Ein lückenloser Nachweis durch Meldeeinträge sei aber auch nicht erforderlich.

Das LSG hält die von der Klägerin beigebrachten Nachweise für eine positive Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz insoweit für ausreichend, um einen Anspruch auf einstweilige Leistungen zu begründen. Im Hauptverfahren sei dann eine Beweisaufnahme mit Zeugenbefragungen vorzunehmen.

 

Entscheidung im Volltext:

lsg_nds_bremen_03_07_2020 (PDF, 210 KB, nicht barrierefrei)

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