VG Bremen, Beschluss vom 13.11.2020
Aktenzeichen 6 V 1316/20

Stichpunkte

Interessante Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz im Verwaltungsgerichtsverfahren um Dublin-Überstellung; formelle Rechtswidrigkeit der Abschiebeandrohung wegen fehlender persönlicher Anhörung auch im Verfahren nach Dublin III-Verordnung

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) ordnet die aufschiebende Wirkung der Klage einer Nigerianerin gegen ihre Abschiebung nach Italien an.

Die Frau hatte sich im Dezember 2019 als unbegleitete Minderjährige bei einer Beratungsstelle in Bremen gemeldet. Da sie bereits in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Wiederaufnahmegesuch an Italien, das nicht beantwortet wurde.

Daraufhin schickte das BAMF an die Frau sowohl einen Fragebogen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und einen zur Prüfung von Abschiebehindernissen.

Die Frau füllte diese nicht aus, sondern antwortete, sie befände sich in einer betreuten Wohngruppe und in psychologischer Therapie. Sie sei psychisch nicht in der Lage, ausführliche Gespräche über ihre Fluchtgründe zu führen. Dies, sowie das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung wurde von einer Fachärztin bestätigt.

Das BAMF sah keine gegen eine Abschiebung sprechenden Gründe gegeben, die Angaben der Antragstellerin reichten hierfür nicht aus und ihre Beschwerden könnten auch in Italien behandelt werden. In ihrer Klage gegen diesen Bescheid, macht die Klägerin geltend, in Italien von Menschenhandel betroffen gewesen zu sein. In Italien gäbe es keine geeignete Unterbringung für Asylsuchende mit Menschenhandelshintergrund. Die für sie als Traumatisierte notwendige medizinische Unterstützung sei insbesondere aufgrund der Corona-Krise nicht gewährleistet.

Das VG gibt dem Antrag auf aufschiebende Wirkung statt, da die Abschiebungsanordnung schon aus formalen Gründen rechtswidrig sei, weil vor der Entscheidung keine persönliche Anhörung der Antragstellerin gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 der Dublin III-Verordnung stattgefunden habe. Der Frau seien lediglich die beiden Fragebögen zugeschickt worden, die diese jedoch nicht beantwortet habe.

Das Gericht sah auch keine Gründe für eine Entbehrlichkeit der persönlichen Anhörung.

Außerdem hätte die Beratungsstelle auf unzureichende Englisch- und Lesekenntnisse der Frau hingewiesen, so dass fraglich sei, dass sie die Fragebögen überhaupt verstanden habe.

Die Rechtsfolgen eines solchen Verstoßes seien in der Dublin III-Verordnung nicht geregelt, daher zieht das VG die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu den Folgen einer nach Art. 14, 15 oder 34 der Richtlinie 2013/32/EU im Asylverfahren erforderlichen, jedoch unterbliebenen Anhörung heran. Das VG beruft sich auf eine Entscheidung des EuGHs vom 16.7.2020, C-517/17 und führt aus, diese Grundsätze seien auf ein persönliches Gespräch nach Art. 5 Abs. 1 Dublin III-VO zu übertragen, denn auch hierdurch solle gewährleistet werden, dass

die Antragsteller*innen sich zu Umständen ihres spezifischen Falls äußern könnten, um so auszuschließen, dass sie in einem anderen Mitgliedstaat der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt seien.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_bremen_13_11_2020 (PDF, 135 KB, nicht barrierefrei)

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