SG Mannheim, Beschluss vom 10.8.2011
Aktenzeichen S 9 AY 2678/11

Stichpunkte

Herausragende Entscheidung im Sozialgerichtsverfahren um höhere Leistungen; umfassende Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, zu Parallelen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV, insbesondere zur Bedarfsermittlung und -anpassung und zum vorläufigen Rechtsschutz.

Zusammenfassung

Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die Stadt Heidelberg in einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, an den Kläger zusätzlich zu dem Regelsatz des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) von 360,- Euro monatlich 65,51 Euro als Darlehen zu zahlen.

Der aus Syrien stammende Kläger lebt seit 2009 in Deutschland. Sein Asylverfahren läuft, er wohnt in einer Gemeinschaftsunterkunft in Heidelberg und erhält Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Im Wege eines Eilverfahrens beantragt er höhere Leistungen. Der Satz nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sei zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausreichend und daher verfassungswidrig. Er beruft sich dabei auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom Juli 2010. Das Landessozialgericht hatte in einem ähnlichen Fall das Verfahren ausgesetzt, da es das AsylbLG für verfassungswidrig hielt und diese Frage dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorgelegt. Dieses wird voraussichtlich noch bis Ende 2011 entscheiden.

Im Hinblick auf Leistungen nach Hartz IV hatte das Bundesverfassungsgericht bereits im Februar 2010 ein Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums entschieden. Außerdem hatte es bestimmte Anforderungen an die Ermittlung des Leistungsbedarfs und auch die Leistungsanpassung festgelegt. Danach muss die Festsetzung der Leistungshöhe empirisch belegt und nachvollziehbar sein und den sich ändernden Verhältnissen ständig angepasst werden.

Diesen Anforderungen wird das Asylbewerberleistungsgesetz nach Ansicht des Sozialgerichts Mannheim nicht gerecht.

Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 eingeführt. Die Leistungssätze seien nach Schätzungen "ins Blaue hinein" festgelegt worden. Die schon damals knapp bemessenen Leistungssätze wurden seitdem nicht angepasst. Deshalb hält das Sozialgericht Mannheim es für wahrscheinlich, dass die Leistungen nicht ausreichend und daher verfassungswidrig sind. Daran änderten auch einmalige Beihilfen nichts. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Äußerung der Bundesregierung im Bundestag von November 2010, in der sie selbst das AsylbLG für verfassungswidrig erklärte.

Vor diesem Hintergrund sei es gerechtfertigt, dem Kläger schon im vorläufigen Rechtsschutz höhere Leistungen zuzusprechen. Andere Gerichte hatten einstweilige Anordnungen bisher abgelehnt, da die Gerichte an die Gesetze gebunden seien, solange sie nicht vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden. Dies hält das Sozialgericht Mannheim nicht für zwingend. Es macht  Ausführungen zu der Möglichkeit, dass das Bundesverfassungsgericht mit Wirkung nicht nur für zukünftige, sondern auch noch nicht bestandskräftige Bescheide der Vergangenheit entscheidet.

Das Gericht befristet die Anordnung bis Ende März 2012, da es bis dahin eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erwartet.

Entscheidung im Volltext:

SG_Mannheim_10_08_2011 (PDF, 572 KB, nicht barrierefrei)

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