SG Kassel, Beschluss vom 5.5.2021
Aktenzeichen S 11 AY 7/21

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im sozialgerichtlichen Rechtsschutzverfahren gegen Leistungskürzungen; Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen bei Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten; Verweis auf weitere Rechtsprechung; Gericht hält Kürzungen in Höhe von 50 % für verfassungswidrig

Zusammenfassung

Das Sozialgericht (SG) ordnet die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen Kürzungen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG) an und verpflichtet das Sozialamt zur vorläufigen Zahlung ungekürzter Leistungen.

Der Antragsteller ist iranischer Staatsangehöriger und nach Ablehnung seines Asylantrages seit 2016 jeweils im Besitz einer Duldung, zuletzt nach § 60 b des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Aufenthaltsbeendende Maßnahmen scheiterten an dem fehlenden Pass des Mannes. Seit Jahren erhält er gekürzte Leistungen nach § 1 AsylbLG, was das Sozialamt damit begründet, es läge der Missbrauchstatbestand des § 1 a Abs. 3 AsylbLG vor, da der Antragsteller trotz Aufforderung keinen Pass beantragt habe und damit seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. Das Sozialamt nahm dabei eine Kürzung von mehr als 50 % vor.

Das SG entspricht dem Antrag auf einstweilige Anordnung. Es bezieht sich dabei insbesondere auf eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts (HLSG) vom 26.02.2020 (AZ L 4 AY 14/19 B ER), in der die Verpflichtung der Leistungsbehörde zu ungekürzten Leistungen in einem ähnlich gelagerten Fall mit der Verpflichtung zur verfassungskonformen Auslegung des § 1 AsylbLG begründet wird.

Das HLSG hatte dabei die tatbestandlichen Voraussetzungen des §1a AsylbLG für eine Leistungskürzung bejaht, bezogen auf die Rechtsfolgen nach §1a Abs.3 AsylbLG bezugnehmend auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 05.11.2019eine verfassungskonforme Auslegung für erforderlich gehalten. Rechtfertigungen für Leistungskürzungen seien nach dieser Entscheidung nur für Personen mit kurzfristigem Aufenthalt vertretbar. Dies träfe auf den Antragsteller, der über 20 Jahre in Deutschland lebt, nicht zu. Mit Verweis auf weitere Rechtsprechung führt das Gericht aus, dass Kürzungen nach § 1a AsylbLG einer von der Leistungseinschränkung betroffenen Person rund 50 % des monatlichen Regelbedarfs vorenthalte. Da dem Antragsteller schon über Jahre die Leistungen gekürzt wurden, hat das SG erhebliche Zweifel an der verfassungsmäßigen Zulässigkeit der aktuellen Leistungskürzung. Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung vom 05.11.2019 die Sanktionsnorm § 31a Abs. 1 Satz 2 des zweites Sozialgesetzbuchs für verfassungswidrig erklärt, soweit die Leistungskürzungen 30 % überschritten.

Das SG sah daher eine Verpflichtung des Sozialamtes zur vorläufigen Gewährung ungekürzter Leistungen als geboten an.

sg_kassel_05_05_2021 (PDF, 425 KB, nicht barrierefrei)

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