BVerwG, Urteil vom 26.1.21
Aktenzeichen 1 C 42.20

Stichpunkte

Höchstrichterliche Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um "Flüchtigsein" im Sinne der Dublinverordnung bei Kirchenasyl; keine Verlängerung der Überstellungsfrist bei "offenem Kirchenasyl", auch bei vorherigem verdeckten Kirchenasyl, das dem BAMF vor Verlängerungsentscheidung bekannt wurde

Zusammenfassung

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ändert das Urteil des Verwaltungsgerichts (VG), hebt einen Bescheid des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf und stellt die Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung des Asylverfahrens fest.

Die iranische Klägerin war mit ihrem Mann mit einem von Polen ausgestellten Schengen-Visum nach Deutschland eingereist und hatte im September 2018 Asyl beantragt. Da Polen seine Zuständigkeit für das Asylverfahren anerkannt hatte, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag als unzulässig ab und drohte die Abschiebung nach Polen an. Der mit ihrer Klage eingereichte Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde Januar 2019 abgelehnt.

Die Klägerin begab sich Januar 2019 ins Kirchenasyl, was sie dem BAMF erst im April 2019 mitteilte. Daraufhin verlängerte dieses im Mai 2019 die Überstellungsfrist auf 18 Monate, da die Klägerin flüchtig sei i.S.d. Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung. Die Vollziehung der Abschiebung wurde aufgrund der Covid 19-Pandemie ausgesetzt.

Das Verwaltungsgericht (VG) lehnte die Klage gegen die Ablehnung des Asylantrages ab, da die Zuständigkeit nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen sei. Die Klägerin sei vielmehr ab Januar 2019 flüchtig gewesen, da sie die Behörden nicht über ihren Aufenthaltsort informiert habe, so dass die Frist unterbrochen worden sei.

Der 1. Senat des BVerwG widerspricht dem und stellt fest, dass die Zuständigkeit Juli 2019 mit Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen sei. Das BAMF habe mit seinem Schreiben vom Mai 2019 die Frist nicht wirksam verlängert, da die Klägerin zu dem Zeitpunkt nicht (mehr) flüchtig i. S. d. Dublin III-VO gewesen sei, da sie dem BAMF im April ihren Aufenthalt im Kirchenasyl mitgeteilt hatte, so dass eine Überstellung möglich gewesen wäre. Dass aufgrund einer rechtlich nicht bindenden Absprache zwischen dem BAMF und den Kirchen keine Abschiebungen aus Kirchenasyl vollzogen werden, beeinflusse nicht die Auslegung des Begriffes "flüchtig".

Der Senat macht Ausführungen zum Begriff des "Flüchtigseins". Objektiv müsse der oder die Antragsteller_in sich den zuständigen Behörden entziehen und dadurch eine Überstellung tatsächlich (zumindest vorübergehend) unmöglich machen. Subjektiv dürfe grundsätzlich aus dem Verlassen der zugewiesenen Wohnung ohne Information der Behörden auf eine Entziehungsabsicht geschlossen werden. Die Klägerin habe sich zwar zunächst im sog. verdeckten Kirchenasyl befunden, da sie die Behörden nicht über ihren Aufenthaltsort unterrichtete. Ab dem Zeitpunkt, in dem sie dem BAMF ihren Aufenthalt bekannt gegeben hat, habe sie sich aber im sog. offenen Kirchenasyl befunden.

Das offene Kirchenasyl hindere den Staat aber weder rechtlich noch tatsächlich an der Vollziehung einer Überstellung, vielmehr  handele es sich um eine politische Entscheidung aufgrund einer Absprache mit den Kirchen, die keine Rechtsgrundlage für eine Verlängerung der Überstellungsfrist schaffe.

Der Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO erfordere ein Flüchtigsein zum Zeitpunkt der Verlängerung der Überstellungsfrist. Vorliegend habe das BAMF aber zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass die Klägerin sich im Kirchenasyl befand, so dass es die Überstellungsfrist nicht hätte verlängern dürfen.

Entscheidung im Volltext:

bverwg_26_01_21 (PDF, 185 KB, nicht barrierefrei)

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