LSG Hessen, Beschluss vom 14.7.2011
Aktenzeichen L 7 AS 107/11 B

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im Sozialgerichtsverfahren um Sozialleistungen für eine rumänische Familie mit der Feststellung, dass der Ausschluss von Leistungen für arbeitssuchende Unionsbürgerinnen und -bürger möglicherweise gegen das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot verstößt; Ausführungen zum vorläufigen Rechtsschutz; nichteheliche Partner keine Familienangehörigen im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes; erwerbsfähig im Sinne des § 8 des zweiten Sozialgesetzbuches sind auch Unionsneubürgerinnen und –bürger, wenn die Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitserlaubnis besteht.

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht (LSG) Hessen verpflichtet im vorläufigen Rechtsschutzverfahren  den Leistungsträger zur Zahlung von Grundsicherungsleistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache.

Die Antragssteller sind ein unverheiratetes Paar aus Rumänien mit fünf Kindern, denen in einem nicht näher ausgeführten Vorverfahren Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II versagt worden waren. Gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Frankfurt hat das Paar vorläufigen Rechtsschutz beim LSG Hessen beantragt und weitgehend Recht bekommen.
Das Landessozialgericht macht zunächst Ausführungen zu den Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren.
Wenn das Ergebnis des Hauptverfahrens aufgrund einer schwierigen Sach- oder Rechtslage offen ist, ist in einer Folgeabwägung festzustellen, welchem der Verfahrensbeteiligten ein Abwarten des Hauptverfahrens eher zuzumuten ist. Besonders bei Ansprüchen, die auf die Sicherung des Existenzminimums gerichtet sind, hat nach Ansicht des Gerichts das Interesse des Leistungsträgers, unberechtigte Leistungen zu vermeiden, gegenüber dem Interesse des Antragsstellers auf Sicherung des Existenzminimums zurückzutreten.

Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren hatte das Gericht nur summarisch zu prüfen, ob im vorliegenden Fall ein Anspruch auf Sozialhilfe möglich ist. Dabei setzt das Gericht sich speziell mit der Frage auseinander, ob Leistungen nach § 7 Absatz 1, Satz 2, Nummer 2 SGB II ausgeschlossen wären. Dies wäre so, wenn ein Aufenthaltsrecht der Antragsteller sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.

Bezogen auf den Mann stellt das Gericht hierzu fest, dass er schon aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit als Gebrauchtwarenhändler freizügigkeitsberechtigt ist. Es macht Ausführungen zu den Anforderungen an die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit, insbesondere die Höhe des erzielten Gewinns. Auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei schon ein monatliches Einkommen von 100,- Euro ausreichend. Das Gericht weist weiter darauf hin, dass der Mann als Unionsneubürger mit nachrangigem Arbeitsmarktzugang als erwerbsfähig im Sinne des § 8 Absatz 2 SGB II anzusehen ist. Unter ausführlichem Verweis auf die Gesetzesbegründungen legt das Gericht dar, das ausreichend ist, wenn eine Arbeitserlaubnis erteilt werden kann.

Der Frau stand kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige zu, da dies nicht für nichteheliche Partner gilt. Da somit ihr Aufenthaltsrecht sich nur auf den Zweck der Arbeitssuche begründet, wäre gemäß § 7 Absatz 1, Satz 2, Nummer 2 SGB II ein Anspruch auf Sozialhilfe ausgeschlossen. Hierzu stellt das Gericht jedoch unter Verweis auf weitere Rechtsprechung fest, dass dieser Leistungsausschluss dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 der seit Mai 2010 geltenden Europäischen Verordnung 883/2004 widerspricht. Danach sind Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates unter denselben Voraussetzungen Sozialleistungen zu gewähren, wie den Staatsangehörigen des eigenen Staates.

Da somit nach Ansicht des Gerichts ein Anspruch der Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit besteht, verpflichtet es den Leistungsträger zur Vermeidung der Existenzgefährdung zur vorläufigen Zahlung der Grundsicherung. Außerdem spricht es vorläufig die zur Begleichung der aufgelaufenen Mietschulden nötige Summe zu.

Entscheidung im Volltext:

LSG_Hessen_14_07_2011 (PDF, 33 KB, nicht barrierefrei)

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