VG Cottbus, vom 5.11.2021
Aktenzeichen 6 K 2518/17.A

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Zwangsheirat betroffene und wegen sog. `Zina-Vergehens´ verfolgte Afghanin; umfassende Darstellung der Situation von wegen Ehebruchs verfolgter Frauen speziell unter (der neuen) Taliban-Herrschaft; Ausführungen zu Ehrenmorden

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einer Afghanin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Klägerin war 2017 nach Deutschland eingereist und hat einen Asylantrag gestellt. In ihrer Anhörung hatte sie angegeben, schon im Alter von 14 oder 15 Jahren von ihrem Bruder mit einem älteren Mann verheiratet worden zu sein, mit dem sie auch zwei Kinder habe. Der Mann habe sie sehr schlecht behandelt, so dass sie sich habe umbringen wollen.

Während dieser Ehe habe sie ihren jetzigen Ehemann kennengelernt, mit dem sie sich auch heimlich getroffen habe. Dabei sei sie von ihrem damaligen Ehemann erwischt und zusammengeschlagen worden. Einen Suizidversuch von ihr habe dieser verhindert. Er habe sich von ihr scheiden lassen und sie zu ihren Brüdern zurückgeschickt, von denen sie wieder geschlagen worden sei. Einer Ehe mit ihrem jetzigen Mann hätten die Brüder aus religiösen Gründen nicht zugestimmt. Auch von ihrem früheren Ehemann sei sie verfolgt und misshandelt worden. Schließlich sei sie mit ihrem jetzigen Mann über den Iran, wo sie auch geheiratet hätten, in die Türkei geflohen. Als ihr früherer Mann sie dort aufgespürt habe, seien sie weiter nach Deutschland geflohen.

Das BAMF lehnte ihren Asylantrag ab und drohte die Abschiebung nach Afghanistan an.

In der Begründung ihrer Klage hiergegen trägt die Frau ergänzend vor, inzwischen habe ihr früherer Ehemann ihrem jetzigen über Facebook Morddrohungen zukommen lassen, so dass eine Rückkehr nach Afghanistan ihren Tod bedeuten würde.

Das VG spricht der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zu, da ihr eine Verfolgung im Sinne der §§ 3 Abs. 1 3A Asylgesetz (AsylG) drohe, weil sie zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen gehöre, denen eine außereheliche Beziehung vorgeworfen wird.

Das Gericht legt ausführlich dar, warum es den Ausführungen der Klägerin glaubt und davon ausgeht, dass ihr im Falle der Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch ihren ehemaligen Ehemann und ihre Brüder in Form von Racheakten wegen Ehrverletzung drohe. Das VG macht unter Hinweis auf zahlreiche Quellen Ausführungen zur Erkenntnislage zur Behandlung von Ehebruch beziehungsweise außerehelichem Geschlechtsverkehr, bezeichnet als `Zina´. Diese würden immer noch als Verletzung der Familienehre betrachtet und Ehrenmorde nach sich ziehen. Zwar würden auch die Männer bestraft, die Frauen würden jedoch häufiger und auch stärker bestraft.

Das VG ist weiter überzeugt, dass die Klägerin auch von den jetzt herrschenden Taliban verfolgt und bestraft würde, die schon während ihrer ersten Herrschaft besonders harte Strafen für Ehebruch verhängt hätten. Die Taliban würden sie im Falle einer Rückkehr eines Verhörs unterziehen und so die Gründe der Flucht offenlegen. Die Strafen der Taliban reichten von Auspeitschen über Steinigung bis zu Hinrichtungen und seien als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr.1 AsylG zu qualifizieren.

Diese Verfolgungsmaßnahmen knüpften auch an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, denen `Zina-Vergehen´ vorgeworfen werden, an. Frauen seien als Trägerinnen der Familienehre zudem stärker von Ehrenmorden betroffen.

Auf inländische Fluchtalternativen könne die Klägerin nicht verwiesen werden, da die Taliban das gesamte Land kontrollierten. Auch angesichts der gegenwärtigen humanitären Situation könne von der Klägerin, die inzwischen ein Kleinkind habe, nicht erwartet werden, dass sie sich in Afghanistan niederlasse. Die aktuelle Versorgungslage sei so schlecht, dass nicht mal junge arbeitsfähige und gesunde Männer ihre Existenz sichern könnten. Dies gelte umso mehr für die Klägerin, bei der davon auszugehen sei, dass sie mit ihrer Familie zurückkehre (Verweis auf BVerwG 04.07.2019).

In Afghanistan bestünde an keinem Ort für sie die Möglichkeit, für sich und ihre Familie die Existenz zu sichern.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_cottbus_05_11_2021 (PDF, 95 KB, nicht barrierefrei)

Gefördert vom
Logo BMFSFJ
KOK ist Mitglied bei

Kontakt

KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Lützowstr.102-104
Hof 1, Aufgang A
10785 Berlin

Tel.: 030 / 263 911 76
E-Mail: info@kok-buero.de

KOK auf bluesky