BAG, Urteil vom 24.6.2021
Aktenzeichen 5 AZR 505/20

Stichpunkte

Grundsatzurteil im Arbeitsgerichtsverfahren um Vergütung von Arbeitszeiten bei häuslicher 24-Stunden-Pflege; Mindestlohn für täglich 24 Stunden Pflege; gilt auch für Bereitschaftszeiten; Mindestlohngesetz; Arbeitnehmer-Entsendegesetz, deutsche Gerichtsbarkeit

Zusammenfassung

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hebt das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg (LAG) vom 17.8.2020 auf und verweist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück an das LAG.

Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und war auf Vermittlung einer deutschen Agentur von ihrem bulgarischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt, um eine pflegebedürftige 90-jährige Frau zu betreuen. Mit ihrem bulgarischen Arbeitgeber war eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden vertraglich vereinbart. In dem Vertrag zwischen Klägerin und ihrem bulgarischen Arbeitgeber war festgelegt, dass die Klägerin neben Haushaltstätigkeiten eine "Grundversorgung" (wie Hilfe beim Waschen, beim Ankleiden) erbringen sowie der alten Dame Gesellschaft leisten und mit ihr spazieren gehen sollte. Zudem sollte sie bei der Frau wohnen. Als Vergütung war vertraglich ein Betreuungsentgelt für 30 Wochenstunden vereinbart. Die Klägerin erhielt für Mai bis August und Oktober bis Dezember 2015 monatlich 950 EUR netto.

Mit gewerkschaftlicher Unterstützung ging die Frau vor das Arbeitsgericht und forderte weitere Vergütung nach dem Mindestlohngesetz. Sie führte an, dass sie nicht nur 30 Wochenstunden, sondern rund um die Uhr gearbeitet habe oder in Bereitschaft gewesen sei. Sie habe die zu pflegende Frau morgens um 6:30 geweckt und sei dann bis zur Nachtruhe um 23:00 tätig gewesen. Auch nachts habe sie in Bereitschaft gestanden, falls sie der zu betreuenden Person Hilfe leisten müsse. Der Arbeitgeber bestritt unter Verweis auf die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 30 Wochenstunden die von der Klägerin behaupteten Arbeitszeiten. Wenn sie freiwillig mehr gearbeitet habe, sei das ohne seine Zustimmung geschehen.

Mit erstinstanzlichem Urteil vom 22.8.2019 hatte das Arbeitsgericht Berlin (ArbG) der Klägerin, einer 24-Stunden-Pflegekraft, für 209 Arbeitstage bei täglich 24 Stunden Arbeit insgesamt 42.636 EUR brutto, abzüglich bereits erhaltener 6.680 EUR netto, zugesprochen. Auf die Berufung der Beklagten hin hatte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) mit Urteil vom 17.8.2020 die Berufung zurückgewiesen und im Übrigen das Ersturteil teilweise abgeändert und ihr für sieben Monate nur rund 32.000 EUR noch ausstehenden Lohn zugesprochen. Das LAG hat die Arbeitszeit auf 21 Stunden täglich geschätzt. Das LAG ließ den Vortrag der Beklagten, dass die vertragliche Vereinbarung nur 30 Wochenstunden umfasste und Überstunden ausgeschlossen waren, unbeachtet. Sich auf diese zeitliche Begrenzung der Tätigkeit zu berufen sei treuwidrig, wenn eine umfassende Betreuung einer Person zugesagt wurde. Es sei Aufgabe des Arbeitgebers, Sorge für die Einhaltung von Arbeitszeiten zu tragen. Der Arbeitgeber habe die Verantwortung für die Betreuung und die Einhaltung der Arbeitszeit jedoch der Klägerin übertragen. Die Beklagte habe durch die vertraglichen Vorgaben eine Situation für die Klägerin geschaffen, in der diese sich dem Bereitschaftsdienst kaum entziehen und keinerlei Vorkehrungen oder organisatorische Maßnahmen zur Begrenzung der Arbeitszeit ergreifen konnte.

Die Klägerin und der Beklagte legten Revision ein.

Das BAG führt zunächst aus, dass sich die Zuständigkeit der deutschen Gerichte aus § 15 Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) ergibt. Aus § 2 Nr. 1 AEntG folge die Geltung des Mindestlohngesetzes (MiLoG) einschließlich Überstundensätze auch für Arbeitsverhältnisse zwischen im Ausland ansässigen Arbeitgeber*innen und ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmer*innen.

Weiter erläutert das BAG, dass auch Arbeitgeber*innen mit Sitz im Ausland zur Zahlung des Mindestlohns für in Deutschland tätige Arbeitnehmer*innen verpflichtet sind, dass mithin § 20 in Verbindung mit § 1 MiLoG international zwingende Wirkung hat. Ob darüber hinaus auch deutsches Recht anzuwenden ist, sei unerheblich. Das BAG macht umfassende Ausführungen zum Charakter der Norm als sog. Eingriffsnorm (Eingriffsnormen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO sind Normen, die anzuwenden sind, auch wenn eigentlich ein anderes Recht auf den vom Gericht zu entscheidenden Fall anwendbar ist).

Das BAG legt dar, das LAG habe im Ausgangspunkt richtig angenommen, dass der Klägerin ein Anspruch auf weitere Vergütung, über die bereits erfolgte Vergütung hinaus, zustehe. Geschuldet sei der gesetzliche Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde. Es stellt fest, dass nicht nur die Vollarbeit sondern auch die Bereitschaftszeit mit dem Mindestlohn zu vergüten ist. Der Anspruch auf den Mindestlohn ist auch nicht für Bereitschaftszeiten zu kürzen. Die Sachleistungen in Gestalt von Kost und Logis bleiben hier unberücksichtigt. Das MiLoG fordere dem BAG zufolge eine Entgeltleistung in Form von Geld und gewährleiste damit seinem Ziel entsprechend jeder*jedem Arbeitnehmer*in ein existenzsicherndes Monatseinkommen. Der Revision des Beklagten sei jedoch insoweit Recht zu geben, dass das LAG rechtsfehlerhaft einen Teil des Vorbringens des Beklagten nicht berücksichtigt habe, nämlich dass Klägerin und Beklagter eine Arbeitszeit von nur 30 Stunden vereinbart hatten. Das LAG hätte diesen Vortrag im Rahmen der rechtlichen Würdigung behandeln müssen. Es sei daher eine weitere Aufklärung des Sachverhalts notwendig und festzustellen, in welchem Umfang die Klägerin tatsächlich Vollarbeit oder Bereitschaftsdienste leisten musste.

Schließlich kritisiert das BAG die Schätzung der geleisteten Arbeitsstunden, die das LAG vorgenommen hat. Es habe keinerlei belastbare Anknüpfungstatsachen für seine Schätzung dargetan, weshalb die Schätzung völlig „in der Luft“ hänge, also willkürlich sei. Hier legt es dem LAG nahe, eine Anhörung der Klägerin dazu nachzuholen.

 

Entscheidung im Volltext:

BAG_24_06_2021.pdf (PDF, 612 KB, nicht barrierefrei)

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