VG Stuttgart, Urteil vom 27.7.2021
Aktenzeichen A 5 K 2093/19

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für Irakerin; alleinstehende Frauen im Irak, ohne Schutz eines männlich dominierten Familienverbandes stellen eine von Verfolgung bedrohte, bestimmte soziale Gruppe dar; umfassende Ausführungen zur Situation der Frauen im Irak und Verweis auf weitere Rechtsprechung

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) spricht einer Irakerin einen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung zu. Die Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit sunnitischen Glaubens. Die 1958 geborene Frau war 2016 nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt. In ihrer Anhörung hatte sie angegeben, den Irak verlassen zu haben, da ihr Sohn dort bedroht worden sei und sie deshalb aufgefordert habe, mit ihm zu fliehen. Als alleinstehende ältere Frau sei es schwer für sie, im Irak zu leben und sie fürchte Verfolgung durch die Personen, die ihren Sohn bedroht hätten.

Ihr Antrag wurde abgelehnt und die Abschiebung angedroht.

Auf ihre Klage hiergegen spricht das VG ihr einen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung zu.

Das Gericht erklärt, unter Verweis auf weitere Erkenntnismittel, alleinstehende Frauen im Irak, die nicht den Schutz eines männlich dominierten Familienverbandes hätten, bildeten eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Asylgesetz (AsylG), die auch mit ausreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgungen ausgesetzt seien und innerhalb des Iraks keine Fluchtmöglichkeit hätten. Das Gericht verweist hierbei auf umfangreiche weitere Rechtsprechung, unter anderem des VG Gelsenkirchen vom 08.06.2017.

Insgesamt sei im gesamten Irak von einer massiven Diskriminierung der Frauen auszugehen, die diese in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletze und ihre Handlungsfreiheit beschränke. Sie könnten kein selbstbestimmtes Leben führen, sich bilden und arbeiten. Es sei davon auszugehen, dass Frauen, die sich den traditionellen irakischen Verhaltens- oder Kleidervorschriften nicht fügten, von Ehrenmorden, Zwangsverheiratungen und schweren Misshandlungen bedroht seien. Das Gericht macht hier umfassende Ausführungen zu Berichten über Angriffe auf Frauen, die unverschleiert waren oder sich ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit bewegt hatten. Übergriffe seien keine Einzelfälle sondern üblich. Ebenso sei es Frauen unmöglich, am Erwerbsleben teilzuhaben oder Eigentum zu mieten oder zu erwerben. Alleinstehende Frauen hätten so gar nicht die Möglichkeit, ohne Überschreitung der Verhaltensvorgaben, wirtschaftlich zu überleben.

Die Geschlechtergleichstellung sei zwar verfassungsrechtlich, aber mit Einschränkungen festgeschrieben. Auf der Ebene der einfachen Gesetze fehle es meist an der Umsetzung.

Die Kammer habe sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung hinreichend davon überzeugt, dass die Klägerin im Irak nicht auf schutzbereite männliche Angehörige zurückgreifen könnte.

Die persönliche Anhörung habe darüber hinaus ergeben, dass sie psychische Probleme sowie auch Einschränkungen in ihrer Auffassungsgabe habe.

Die der Klägerin drohende Verfolgung stelle eine massive Menschenrechtsverletzung dar, so dass insgesamt die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei.

Entscheidung im Volltext:

vg_stuttgart_27_07_2021 (PDF, 1, 2 MB, nicht barrierefrei)

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