Grundsatzentscheidung im Vorabentscheidungsverfahren zur Fortgeltung eines abgeleiteten Freizügigkeitsrechts bei Betroffenen häuslicher Gewalt; weiter Gestaltungsspielraum der EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich des Aufenthaltsrechts von Drittstaatsangehörigen; Gleichheitsgrundsatz, Diskriminierungsverbot
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich einer Vorlage des belgischen Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitigkeiten), dass bei Drittstaatsangehörigen, die häusliche Gewalt durch ihre*n die Unionsbürgerschaft besitzende*n Ehepartner*in erfahren haben, der Fortbestand des Aufenthaltsrechts nach Scheidung davon abhängig gemacht werden kann, dass Betroffene über genügende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen.
Ein algerischer Staatsangehöriger hatte vor dem belgischen Rat für Ausländerstreitigkeiten gegen die Beendigung seines Aufenthaltsrechts in Belgien geklagt. Er hatte zuvor die belgische ‘Aufenthaltskarte‘ für Familienangehörige eines Unionsbürgers inne. Seit dem Jahr 2012 lebte er zusammen mit seiner damaligen Ehefrau in Belgien, die die französische Staatsangehörigkeit besitzt. Der Kläger war häuslicher Gewalt seitens seiner Ehefrau ausgesetzt und wurde im Jahr 2015 gezwungen, die eheliche Wohnung zu verlassen. Seine Ehefrau verließ im selben Jahr Belgien und zog nach Frankreich. Im Jahr 2018 reichte der Kläger die Scheidung ein und die Eheleute wurden geschieden. Der belgische Staat beendete daraufhin das Aufenthaltsrecht des Klägers, da dieser nicht nachweisen konnte, über ausreichende Mittel zur Deckung seines Lebensunterhalts zu verfügen. Die belgische Ausländerbehörde stütze sich dabei auf ein Gesetz, welches Art.13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/ (Freizügigkeitsrichtlinie) umsetzt. Dieses macht das weitere Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen, die häusliche Gewalt seitens einer*s Ehegatt*in erfahren haben, nach der Scheidung von dieser*m Ehegatt*in von dem Nachweis der Lebensunterhaltssicherung abhängig. Das Gesetz setzt die EU-Freizügigkeitsrichtlinie um und gilt für Personen, deren Ehegatt*innen Unionsbürger*innen sind. Der Kläger machte geltend, es liege ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor:
Wenn sein*e gewaltausübende Lebenspartner*in Drittstaatsangehörige*r (und nicht Unionsbürger*in) gewesen wäre, wäre er auch ohne den Nachweis der Lebensunterhaltssicherung weiterhin aufenthaltsberechtigt gewesen. Dies gelte zum Beispiel in Fällen des Familiennachzugs bei anerkannten Flüchtlingen und folge aus Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie). Der Kläger machte geltend, er sei aufgrund seiner Ehe mit einer Unionsbürgerin schlechter gestellt als Personen in einer vergleichbaren Situation, deren Aufenthalt sich aus der Ehe mit einer*m Drittstaatsangehörigen ableitet. Diese Diskriminierung sei auch nicht gerechtfertigt. Das belgische Gericht hielt einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz für möglich und legte daher dem EuGH die Frage vor, ob Art. 13 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie mit dem in Art. 20 der EU-Grundrechtecharta festgeschriebenen Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sei.
Bevor der EuGH die Vereinbarkeit prüft, macht er Ausführungen zum Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 2 Unterabsatz 1 Buchstabe c der Freizügigkeitsrichtlinie. Der EuGH nimmt Stellung zu der Frage, ob die Bestimmung auch anwendbar ist, wenn (wie vorliegend der Fall) das gerichtliche Scheidungsverfahren erst nach dem Wegzug des Ehegatten mit Unionsbürgerschaft aus dem betreffenden Mitgliedstaat eingeleitet wurde. Der EuGH korrigiert sein Urteil vom 30. Juni 2016, NA, (Az. C-115/15) und stellt nunmehr klar, dass zur Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts nach Art. 13 Abs. 2 Unterabsatz 1 Buchstabe c der Freizügigkeitsrichtline das gerichtliche Scheidungsverfahren auch nach dem Wegzug des*der Ehepartner*in eingeleitet werden kann. Er will damit vermeiden, dass verheiratete Unionsbürger*innen mit einem Wegzug einseitig das Aufenthaltsrecht der Betroffenen in der Hand haben oder durch die Androhung einer Scheidung oder eines Wegzugs Druck ausüben. Im Interesse der Rechtssicherheit fordert der EuGH jedoch, dass die Scheidung innerhalb einer angemessenen Frist nach dem Wegzug eingeleitet werden müsse. Der vorliegend verstrichene Zeitraum von drei Jahren sei nicht mehr als angemessen zu bewerten.
Der EuGH verneint einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 20 der EU-Grundrechtecharta. Die Situationen seien nicht vergleichbar. Beide Richtlinien verfolgten zwar ein gemeinsames Ziel, nämlich den Schutz von Familienangehörigen, die häusliche Gewalt erfahren und deren Aufenthaltsrecht sich von dem ihres Ehegatten ableitet. Die Regelungsbereiche der Richtlinien seien genauso verschieden wie das den Mitgliedstaaten zustehende Ermessen. Die Freizügigkeitsrichtlinie diene dem Ziel, einen europäischen Binnenmarkt zu errichten. Sie gewährleiste das Recht der Unionsbürger*innen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten und dieses ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit zuzuerkennen. Dem drittstaatsangehörigen Ehegatten erwachsen aus dieser Richtlinie aber keine eigenen Rechte. Ihr Aufenthaltsrecht ist lediglich gewährleistet, damit Unionsbürger*innen nicht aufgrund des Aufenthaltsstatus ihrer Angehörigen darauf verzichten, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten. Der EuGH stellt fest, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie dagegen in den Bereich der Migration fällt. Sie dient den Rechten der Drittstaatsangehörigen und soll ihre Integration erleichtern. Hier habe die Union eine Harmonisierungszuständigkeit, d.h. dass in Bereichen, die vom Unionsrecht nicht erfasst sind, von gemeinsamen Regeln abgewichen werden kann. Der EuGH führt aus, dass den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie ein weiterer Gestaltungs- und Ermessensspielraum zusteht. Daher seien die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung der Voraussetzungen, die an eine Verfestigung des Aufenthalts gestellt werden, weitgehend frei. Bei der Freizügigkeitsrichtlinie sei das Ermessen dagegen begrenzter und an die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 geknüpft, d. h. dass Betroffene u.a. nachweisen, dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.
Die Annahme, beide Sachverhalte seien nicht vergleichbar, überzeugt nicht vollständig. Aus Sicht des Betroffenen hängt es vom Zufall ab, ob der*die Ehepartner*in ein*e Unionsbürger*in oder ein*e Drittstaatsangehörige*r ist. Eine Regelung wie die belgische kann zur Folge haben, dass Opfer häuslicher Gewalt, deren Aufenthaltstitel von dem einer*s Unionsbürger*in abhängig ist, sich aus Furcht vor dem Verlust der eigenen Aufenthaltsberechtigung nicht trennen und trifft insbesondere vulnerable Gruppen wie alleinerziehende Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht vollständig decken können.
Entscheidung im Volltext: