EuGH, Urteil vom 14.5.2019
Aktenzeichen C-55/18

Stichpunkte

Grundsatzentscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen ihre Arbeitgeber*innen verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zu errichten, mit dem die von den Arbeitnehmer*innen geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann; Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer*innen; Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit der EU-Richtlinie 2003/88/EG (EU-Arbeitszeitrichtlinie), der Richtline 89/391/EWG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC)

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich einer Vorlage der spanischen Audiencia Nacional (spanischer Nationaler Gerichtshof), dass es gegen europäisches Recht verstößt, wenn die Regelung eines Mitgliedstaates Arbeitgeber*innen nicht verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von Arbeitnehmer*innen geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Er sieht darin eine Verletzung von Art. 3 (tägliche Ruhezeit), Art. 5 (wöchentliche Ruhezeit) und Art. 6 (wöchentliche Höchstarbeitszeit) der EU-Arbeitszeitrichtlinie, die im Licht von Art. 31 Abs. 2 GRC sowie von Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391/EWG auszulegen sind.

Die spanische Arbeitnehmer*innenvereinigung (CCOO) hatte gegen die Deutsche Bank vor dem Spanischen Nationalen Gerichtshof eine Verbandsklage erhoben. Sie wollte feststellen lassen, dass die Deutsche Bank verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von den Angestellten geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Das Erfassungssystem sollte zum einen überprüfen, ob die vorgesehene Arbeitszeit eingehalten wird. Zum anderen sollte es überprüfen, ob Gewerkschaftsvertreter*innen von Arbeitgeber*innen über die monatlich geleisteten Überstunden unterrichtet werden, wie es das spanische Recht vorschreibt.

Der EuGH stellt zu den Vorlagefragen eingangs heraus, dass das Recht eine*r jeden Arbeitnehmer*in auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten nicht nur eine Regel des Sozialrechts der Union ist, die besondere Bedeutung hat, sondern auch in Art. 31 Abs. 2 GRC ausdrücklich verbürgt ist und der nach Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt. Die in der GRC enthaltenen Grundrechte würden durch die EU-Arbeitszeitrichtlinie, insbesondere den Art. 3, 5 und 6, konkretisiert und dürften nicht restriktiv ausgelegt werden. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie bezwecke einen besseren Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer*innen durch die Gewährung von – u.a. täglichen und wöchentlichen – Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen sowie eine Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit. Die Mitgliedstaaten müssten nach Art. 3 und 5 der EU-Arbeitszeitrichtlinie eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden und pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden gewähren. Art. 6 b der EU-Arbeitszeitrichtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit eine Obergrenze von 48 Stunden vorzusehen, wobei diese Obergrenze die Überstunden einschließe. Auch bei einem Einverständnis von betroffenen Arbeitnehmer*innen könne davon nicht abgewichen werden.

Der EuGH räumt ein, dass die EU-Arbeitszeitrichtlinie den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung der zur Einhaltung der Richtlinie erforderlichen Maßnahmen einen Spielraum belässt. Er macht aber deutlich, dass sie die praktische Wirksamkeit der o.g. Rechte in vollem Umfang zu gewährleisten haben. Die von den Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten dürften nicht zur Aushöhlung der Rechte führen.

Der EuGH weist darauf hin, dass Arbeitnehmer*innen als die schwächeren Parteien der Arbeitsverträge anzusehen seien. Dies folge daraus, dass Arbeitnehmer*innen davon abgeschreckt werden können, ihre Rechte gegenüber Arbeitgeber*innen ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte sie Maßnahmen der Arbeitgeber*innen aussetzen könne, die sich nachteilhaft auf das Arbeitsverhältnis auswirken können.

Der EuGH stellt fest, dass ohne ein System, mit dem die von den Arbeitnehmer*innen geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, weder die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie ihre zeitliche Verteilung noch die über die gewöhnliche Arbeitszeit hinausgehende, als Überstunden geleistete Arbeitszeit, objektiv und verlässlich ermittelt werden kann. Die Einhaltung der Rechte aus Art. 3, 5 und 6 der EU-Arbeitszeitrichtlinie sei ohne eine solches System zur Arbeitszeitmessung gefährdet.

Allein ein System zur Erfassung der Überstunden reiche nicht aus. Der EuGH macht deutlich, dass die Einstufung als „Überstunden“ voraussetzt, dass die Dauer der von der*dem jeweiligen Arbeitnehmer*in geleisteten Arbeitszeit bekannt ist und somit zuvor gemessen wurde. Auch durch andere Beweismittel, wie Zeug*innenaussagen, die Vorlage von E-Mails oder die Untersuchung von Mobiltelefonen oder Computern könnten nicht objektiv und verlässlich die Zahl der von Arbeitnehmer*innen täglich oder wöchentlich geleisteten Arbeitszeiten festgestellt werden. Schließlich könnten auch die Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse von Kontrollorganen, wie der Arbeitsinspektion, die Nachweisschwierigkeiten nicht beheben. Der EuGH stellt diesbezüglich klar, dass Kontrollorgane ohne ein solches System kein wirksames Mittel haben, sich den Zugang zu objektiven und verlässlichen Daten über die geleistete Arbeitszeit zu verschaffen. Für die Arbeitnehmer*innen sei es in diesem Fall praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen. Ohne ein solches System könne keine Garantie gegeben werden, dass das von der EU-Arbeitszeitrichtlinie verliehene Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf Mindestruhezeiten vollständig gewährleistet werden.

Der EuGH verlangt daher ein objektives, verlässliches und zugängliches System, mit dem die von einer*m Arbeitnehmer*in geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Ein solches System sei darüber hinaus erforderlich, um Arbeitnehmer*innenvertretungen in die Lage zu versetzen, ihr in der Richtlinie 89/391 EWG vorgesehenes Recht ausüben zu können, nämlich Arbeitgeber*innen um geeignete Maßnahmen zu ersuchen und ihnen Vorschläge zu machen.

Entscheidung im Volltext:

EuGH_14_05_2019.pdf (PDF, 194 KB, nicht barrierefrei)

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