VG Freiburg, Urteil vom 21.1.2021
Aktenzeichen A 9 K 666/20

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Dublin-Verfahren um Überstellung einer nigerianischen von Menschenhandel Betroffenen nach Italien; bei Opferzeugin von internationalem Menschenhändlerring, die unter Anwendung des Juju-Schwurs nach Italien bzw. Deutschland gebracht, zur Prostitution gezwungen wurde und als Zeugin zur Verurteilung der Täter beigetragen hat, Überstellung nur bei individueller Zusicherung angemessener Aufnahme zulässig; Verweis auf Ausführungen des Strafurteils

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) hebt einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Überstellung der Klägerin nach Italien auf.

Die Klägerin ist Nigerianerin. Sie reiste 2017 von Italien nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. In ihrer Anhörung gab sie an, sie sei von Nigeria mit Hilfe einer Madame nach Italien gereist, die ihr eine Arbeit als Verkäuferin in Europa versprochen habe. Für die Schlepperkosten habe sie sich bei der Madame verschuldet und hätte noch in Nigeria einen Voodoo-Schwur ablegen müssen.

In Italien sei sie von einer anderen Madame empfangen worden, die ihre Weiterreise nach Deutschland organisiert hätte, wo man sie zur Prostitution habe zwingen wollen. Dabei sei sie mit dem Schwur aber auch mit möglicher Gewalt gegen ihre in Nigeria lebenden Eltern bedroht worden. Sie sei einen Monat eingesperrt gewesen, habe aber fliehen können. Sie habe nicht als Prostituierte gearbeitet und sei auch nicht geschlagen worden.

Der Sonderbeauftragte des BAMF stufte sie aufgrund ihres Vorbringens nicht als Menschenhandelsopfer ein und sprach sich gegen die Ausübung des Selbsteintrittsrechts aus. Es sei auch nicht ersichtlich, warum eine Gefährdung in Italien größer sein sollte als in Deutschland. Das BAMF lehnte daraufhin den Asylantrag wegen Zuständigkeit Italiens als unzulässig ab und ersuchte Italien um Rückübernahme.

Die Frau hatte Klage eingereicht und einen Antrag auf aufschiebende Wirkung gestellt, dem stattgegeben wurde, da die Frage, ob in Italien systemische Mängel vorlägen, vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig war.

Die Anwältin der Klägerin, die diese auch als Nebenklagevertreterin im Strafprozess vertreten hatte, erklärte dem VG, dass die Klägerin Opfer von Zwangsprostitution und von der Polizei in einem Opferschutzprogramm aufgenommen worden sei und von einer Fachberatungsstelle weiterhin betreut würde. Sie legte dem VG das Strafurteil vor, durch das die beiden Täter aufgrund der Aussage der Klägerin als Nebenklägerin wegen schwerer Zwangsprostitution zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Die Klägerin sei von einem Netzwerk nigerianischer Mittelsmänner und -frauen über Libyen nach Italien und Deutschland gebracht worden. Die Anwältin stellte außerdem die Kontakte dar, die seitens des Netzwerkes in Italien nach wie vor bestünden. Einer der wegen Zwangsprostitution der Klägerin verurteilten Täter solle nach Italien abgeschoben werden. Die Klägerin habe Angst aufgrund ihrer noch unbeglichenen `Schulden´ aber auch vor Vergeltungsmaßnahmen.

Das VG erklärt die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig für rechtswidrig. Zwar sei Italien grundsätzlich der nach der Dublin-III-Verordnung zuständige Staat gewesen. Bei Mängeln des zuständigen Staates im Asylsystem, die die Schutzsuchenden in ernste Gefahr einer unmenschlichen Behandlung brächten, bestehe jedoch die Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes nach Art. 17 Dublin-III-VO. Das VG führt aus, unter welchen Voraussetzungen das Drohen einer unmenschlichen Behandlung anzunehmen ist und bezieht sich dabei auf die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) anlässlich der sog. Jawo-Entscheidung vom 19.03.2019 entwickelten Maßstäbe. Danach reiche nicht allein eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse und große Armut. Die Betroffenen müssten in eine Situation extremer materieller Not geraten, unfähig elementarste Bedürfnisse wie Unterkunft und Ernährung zu befriedigen, einen Zustand der Verelendung, der mit der Menschenwürde unvereinbar sei.

Der EuGH unterscheide dabei unter Bezug auf das sog. Tarakhel-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR vom 04.11.2014 zwischen gesunden, arbeitsfähigen und besonders verletzlichen Antragsteller*innen, die unabhängig vom eigenen Willen und persönlicher Entscheidung in eine Situation extremer materieller Not geraten könnten. Für diese sei von einem anderen, höheren Schutzstandard auszugehen und entsprechend seien vor Rückführung verlässliche Versorgungszusagen der Behörden des Zielstaates einzuholen.

Unter Verweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 10.10.2019 hält das VG die von Italien abgegebene allgemeine Zusicherung bezüglich der Behandlung vulnerabler Personen für unzureichend. Es fehle an einer individuellen Versicherung im Hinblick auf die speziellen Schutzbedürfnisse der Klägerin. Dass sie in Italien in die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung gerate, könne daher nicht ausgeschlossen werden.

Entsprechende Mängel des Aufnahmesystems könnten in Italien zwar nicht für alle rücküberstellte Flüchtlinge angenommen werden, für besonders vulnerable Personen sei jedoch eine individuelle Zusicherung erforderlich. Die Klägerin sei als Betroffene von Zwangsprostitution zu diesem Personenkreis zu zählen. Zur Feststellung der Opfereigenschaft stützt das VG sich auf die Feststellungen des Strafurteils sowie die Ausführungen der Anwältin der Klägerin, die zu bezweifeln es keinen Anlass sieht.

Das VG setzt sich mit der Rechtsprechung zu Dublin-Überstellung junger Nigerianerinnen nach Italien auseinander, die grundsätzlich nicht nur, weil sie alleinstehende Frauen seien als vulnerabel einzustufen seien. Auch könne nicht für alle von einer Gefahr, von Zwangsprostitution betroffen zu werden, ausgegangen werden. In Fällen wie dem der Klägerin jedoch, wo die Opfereigenschaft bereits glaubhaft festgestellt sei, ginge die Rechtsprechung von einer Vulnerabilität aus, die eine individuelle Zusicherung Italiens für eine rechtmäßige Überstellung erforderlich mache. Die Menschenhändlerkreise seien gut vernetzt in Italien. Rücküberstellte und auf sich alleingestellte Personen müssten zum Überleben zwangsläufig den Kontakt zur `nigerianischen Community´ suchen und seien so der sehr großen Gefahr ausgesetzt, wieder in die Hände der Menschenhändler zu geraten. Das Gericht verweist hier auf weitere Rechtsprechung und eine Ausarbeitung des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel e.V. (KOK), "Grundrechtsschutz gegen Abschiebungen gem. der Dublin-III-Verordnung von Betroffenen des Menschenhandels" vom September 2019.

Für die Klägerin, deren Aussage zur Verurteilung der Täter beigetragen habe, welche zum Zeitpunkt der Entscheidung rund drei Jahre nach ihrer Verurteilung inzwischen auf freiem Fuß und nach Italien abgeschoben sein könnten, sieht das Gericht eine große Gefahr auch wegen der noch offenen Schulden dort Opfer von Racheakten zu werden und wieder in die Händler der Menschenhändler zu gelangen.

Die Argumentation des BAMF nimmt das VG erfreulich kritisch ins Visier und hält es für nicht vertretbar, dass dieses sich nicht um eine individuelle Zusicherung Italiens bemüht habe, der Klägerin einen ähnlichen Schutz wie in Deutschland zu gewähren. Die Klägerin schlicht darauf zu verweisen, bei Überstellung nach Italien auf sich gestellt und schutzlos dort Kontakte ins nigerianische Milieu zu meiden und sich an die Polizei zu wenden, hält das VG für nicht ausreichend. Die Ablehnung des Asylantrages der Klägerin als unzulässig sei daher rechtswidrig und Deutschland für die Durchführung des Verfahrens zuständig.

Entscheidung im Volltext:

Vg_freiburg_21_01_2021 (PDF, 14 KB, nicht barrierefrei)

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