SG Berlin, Urteil vom 15.6.2022
Aktenzeichen S 134 AS 8396/20

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im Sozialgerichtsverfahren um Hartz-IV-Anspruch einer Bulgarin bei Aufgabe der selbständigen Prostitutionstätigkeit; Beendigung der Tätigkeit nicht als freiwillige Arbeitsaufgabe zu werten; Aufenthaltsrecht und Leistungsanspruch bleiben bestehen

Zusammenfassung

Das Sozialgericht (SG) spricht einer Bulgarin und ihren minderjährigen Söhnen Hartz-IV-Leistungen zu. Die Frau hatte seit 2014 in Berlin steuerlich gemeldet als selbständige Prostituierte auf dem Straßenstrich gearbeitet. Mitte 2019 gab sie die Tätigkeit auf, weil sie mit ihrem zweiten Sohn schwanger war und die Arbeit für sich nicht mehr als zumutbar empfand. Zunächst erhielt sie noch Sozialleistungen, die aber zum Oktober 2020 eingestellt wurden. Das Jobcenter begründete dies damit, sie habe kein Aufenthaltsrecht aus ihrer selbständigen Tätigkeit mehr, sondern nur eines zur Arbeitssuche und somit keinen Leistungsanspruch. Ihre selbständige Tätigkeit habe sie freiwillig aufgegeben, also sei ihre Arbeitslosigkeit selbst verschuldet.

Die Frau erhob daraufhin Klage auf Leistungen von Oktober 2020 bis Mai 2022.

Das SG gibt ihr Recht. Anders als das Jobcenter sieht es keine selbstverschuldete Arbeitslosigkeit.

Zunächst macht das Gericht Ausführungen zur Tätigkeit der Klägerin als selbständige Prostituierte, die diese zumindest von 2017 bis 2019 eigenverantwortlich und auf eigenes Risiko ausgeübt habe. Hierbei handele es sich spätestens seit der Legalisierung der Prostitution durch das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (ProstSchutzG) vom 21.10.2016 um eine selbständige Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU). Die Klägerin habe daher ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 FreizügG/EU erworben. Dieses bestehe auch für den Zeitraum von Oktober 2020 bis Mai 2022, um den es vorliegend ging, fort. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das Freizügigkeitsrecht für selbständig Erwerbstätige bei Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der/die Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einen Jahr Tätigkeit bestehen. Eine einjährige Tätigkeit sieht das SG für die Klägerin auch trotz kurzer Besuchsaufenthalte in Bulgarien als gegeben. Weiter erläutert das SG die Voraussetzungen der `unfreiwilligen Aufgabe der Tätigkeit´. Hierbei käme es nicht auf eine bewusste und willentliche Entscheidung des/der Selbständigen an, maßgeblich sei vielmehr, ob die selbständig tätige Person die Beendigung der Tätigkeit zu vertreten hat oder ob die Beendigung auf Umständen beruht, die die Person nicht beeinflussen kann und die es ihr unmöglich oder unzumutbar machen, die Tätigkeit fortzuführen. Im Fall der Klägerin, die das Gericht in der mündlichen Verhandlung zu ihren Arbeitsbedingungen auf dem Straßenstrich befragt hatte, kommt es zu dem Schluss, dass sie die Beendigung ihrer Tätigkeit nicht zu vertreten habe. Grund seien die prekären Umstände der Armutsprostitution unter denen die Klägerin zwei Jahre gearbeitet habe und die das Gericht als unzumutbar einstuft.

Darüber hinaus erklärt das Gericht, dass generell auch unabhängig von konkreten Umständen des Einzelfalles bei Beendigung der Prostitutionstätigkeit nicht von einer freiwilligen Aufgabe der Erwerbstätigkeit auszugehen sei, die den Verlust des Leistungsanspruchs gem. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU nach sich ziehe, denn das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der Betroffenen. Prostitution sei angesichts der staatlichen Pflicht zum Schutz der Menschenwürde als unzumutbar im Sinne des § 10 Abs.1 Nr. 5 Zweites Sozialgesetzbuch (SGB II) anzusehen. Daher dürfe der Staat weder Arbeitsvermittlung in die Prostitution vornehmen noch verlangen, diese Tätigkeit fortzusetzen, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden. Andernfalls würde der Ausstieg aus der Prostitution erschwert. Dies gelte auch, wenn die betreffende Person diese Arbeit in der Vergangenheit ausgeführt habe. Somit bleibe das Aufenthaltsrecht der Klägerin auch nach Aufgabe der Prostitution bestehen.

Außerdem stellt das SG klar, dass eine Bescheinigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitsaufgabe durch die Bundesagentur für Arbeit bei Selbständigen grundsätzlich nicht erforderlich sei, was sich schon aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU ergebe.

Entscheidung im Volltext:

Sg_berlin_15_06_2022 (PDF, 143 KB, nicht barrierefrei)

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