EuGH, Urteil vom 1.8.2022
Aktenzeichen C-279/20

Stichpunkte

Klarstellende Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren zu Familienzusammenführung; Kindernachzug; Zeitpunkt für die Feststellung, ob ein Kind ein minderjähriges Kind nach Art. 4 Abs. 1 c der Richtlinie 2003/86 ist; Eintritt der Volljährigkeit vor Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft des zusammenführenden Elternteils und vor Antrag auf Familienzusammenführung; zu den Voraussetzungen von „tatsächlichen familiären Bindungen“ nach Artikel 16 Abs. 1 b der Richtlinie 2003/86

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), dass ein Kind, das einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt hat, ein minderjähriges Kind nach Art. 4 Abs. 1 c der Richtlinie 2003/86 ist, auch wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Für die Feststellung des Zeitpunkts, ob es sich um ein minderjähriges Kind im Sinne der Richtlinie handelt, sei laut EuGH auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat. Der EuGH macht darüber hinaus Ausführungen zum Vorliegen von „tatsächlichen familiären Bindungen“ nach Art. 16 Abs. 1 b der Richtlinie 2003/86 und stellt klar, dass die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht genügt, ein Zusammenleben aber auch nicht erforderlich ist. Gelegentliche Besuche können hingegen als Beleg ausreichen.

Der Vater, der am 01.01.1999 geborenen syrischen Staatsangehörigen XC, war 2015 nach Deutschland eingereist, wo er im April 2016 einen förmlichen Asylantrag stellte. Nach erfolgreicher Klage wurde ihm im Juli 2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Im September 2017 wurde ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erteilt. Am 10.08.2017 beantragte XC, die am 01.01.2017 volljährig geworden war, beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul (Türkei) ein nationales Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland wohnhaften Vater. Das Generalkonsulat lehnte die Visumserteilung mit Bescheid vom 11.12.2017 mit der Begründung ab, XC sei volljährig geworden, bevor ihrem Vater die Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling erteilt worden ist. Außerdem läge kein Fall außergewöhnlicher Härte nach § 36 Abs. 2 AufenthG vor. Das Verwaltungsgericht Berlin (VG) gab der gegen diesen Bescheid gerichtete Klage von XC statt und verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland, ihr ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung zu erteilen. Das VG Berlin vertrat die Auffassung, dass ein Kind des Zusammenführenden nach der Rechtsprechung des EuGH als minderjährig nach Art. 4 Abs. 1 c der Richtlinie 2003/86 anzusehen sei, wenn es bei der Stellung des Asylantrags durch den Zusammenführenden minderjährig gewesen sei. Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen das Urteil Revision beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ein. Die bereits durch den EuGH ergangene Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 12.04.2018, Aktenzeichen C-550/16) sei auf die vorliegenden Fälle nicht anwendbar.

Der EuGH wies das BVerwG während des Verfahrens zunächst auf ein am 16.07.2020 ergangenes anderes Urteil, zu den Aktenzeichen C-133/19, C-136-19 und C-137/19 hin und fragte, ob das BVerwG sein Vorabentscheidungsersuchen mit Hinblick auf dieses Urteil aufrechterhalten will. Das bejahte das BVerwG, denn es sah die Frage, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung des Alters abgestellt werden könne, in dem Urteil nicht beantwortet.

Der EuGH äußert sich in seinem Urteil dahingehend, dass den Mitgliedstaaten bei der Festlegung des Zeitpunkts, auf den für die Beurteilung des Alters der Antragsteller*innen für die Zwecke von Art. 4 Abs. 1 c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt sei. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folge, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss. Diese Auslegung müsse unter Berücksichtigung u.a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden. Das Ziel der Richtlinie bestehe in der Begünstigung der Familienzusammenführung. Auch die durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechte aus Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 24 Abs. 2 und 3 (Kindeswohl) der Charta der Europäischen Union müssten Beachtung finden.

Nach deutschem Recht sei es zwar nicht erforderlich, dass das Kind zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist. Es müsse aber zu dem Zeitpunkt minderjährig sein, zu dem sein Visumsantrag gestellt wird, und zu dem Zeitpunkt, zu dem dem Elternteil die zum Familiennachzug berechtigende Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Der EuGH stellt dazu fest, dass ein Kind eines*einer Asylbewerber*in einen Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 c der Richtlinie 2003/86 nur dann wirksam stellen kann, wenn über den Antrag des asylsuchenden Elternteils auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bereits positiv entschieden wurde.

Der EuGH stellt klar, dass sich aus den oben bereits zitierten Urteilen (EuGH, Urteil vom 12.04.2018, Aktenzeichen C-550/16 und Urteil vom 16.07.2020, zu den Aktenzeichen C-133/19, C-136-19 und C-137/19) ergibt, dass das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um minderjährige Kinder geht, nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder auf Familienzusammenführung ausgehöhlt werden darf.

Der EuGH macht deutlich, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des betreffenden Elternteils oder auf den Zeitpunkt zu dem der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, weder mit den Zielen der Richtlinie 2003/86 noch mit den Anforderungen aus Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 24 Abs. 2 (Kindeswohl) der Charta der Europäischen Union im Einklang steht. Es bestünde sonst keine Veranlassung, die Anträge von Eltern Minderjähriger auf internationalen Schutz mit der gebotenen Dringlichkeit zu bearbeiten. Auch die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit, d.h. eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller*innen, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten, müssten Beachtung finden. Der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hinge nach der Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich von Umständen ab, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, und nicht von Umständen, die in der Sphäre der Antragsteller*innen liegen. Das könne große Unterschiede bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats zur Folge haben.

Nur das Abstellen auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags des Zusammenführenden stehe mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten in Einklang.

Eine weitere Frage betraf die Voraussetzungen von „tatsächlichen familiären Bindungen“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 b der Richtlinie 2003/86. Danach können Anträge auf Familienzusammenführung abschlägig beschieden werden, wenn solche Bindungen nicht bestehen. Der EuGH stellt fest, dass für das Vorliegen von „tatsächlichen familiären Bindungen“ im Sinne dieser das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht genügt. Es sei jedoch nicht erforderlich, dass der zusammenführende Elternteil und das betreffende Kind im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dache wohnen. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Eine gegenseitige finanzielle Unterstützung könne nicht verlangt werden.

Der EuGH entschied ähnlich in einem Parallelfall, ebenfalls mit Urteil vom 01.08.2022, zu den Aktenzeichen C-273/20 und C-355/20, über den Familiennachzug von Eltern zu ihren Kindern. Die Entscheidung ist ebenfalls in dieser Datenbank eingestellt (link).

 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_01_08_2022_Familienzusammenführung_BRD_vs_XC.pdf (PDF, 264 KB, nicht barrierefrei)

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