VG Berlin, Urteil vom 20.1.2022
Aktenzeichen 29 K 107.17 A

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für Irakerin mit westlichem Lebensstil; umfangreiche Ausführungen zur Situation der (alleinstehenden, geschiedenen) Frauen im Irak; Hinweis auf diverse Länderberichte

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), einer Irakerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Frau war 2015 aus dem Irak nach Deutschland eingereist und hatte im März 2016 einen Antrag auf Asyl gestellt. Bei ihrer Anhörung hatte sie angegeben, in Bagdad studiert und von 2007 bis 2015 in einem Labor gearbeitet zu haben. Sie sei aus dem Irak wegen der Sicherheitslage geflohen und weil ihr syrischer Ehemann nicht in den Irak einreisen dürfe.

Außerdem habe sie eine Leber- und Nierenerkrankung, die im Irak nicht behandelt werden könnte.

Das BAMF lehnte ihren Antrag ab, da es keine flüchtlingsrelevanten Umstände gegeben sah. 

Hiergegen reichte die Frau Klage ein. Sie gab dazu an, bei der Anhörung vor dem BAMF ihre tatsächlichen Fluchtgründe nicht genannt zu haben, weil dort arabische Männer anwesend gewesen seien und sie befürchtet hätte, diese könnten ihrer Familie im Irak ihren Aufenthaltsort verraten. Erst nach einem Gespräch mit einer Sozialarbeiterin erzählte sie ihre wahren Fluchthintergründe. Sie sei vor ihrer Familie geflohen, die sie verstoßen habe, als sie einen Christen kennengelernt habe. Ihr Vater und Bruder hätten sie mit dem Tod bedroht. Selbst als sie sich von dem Mann getrennt und ihren jetzigen, sunnitischen Ehemann geheiratet habe, sei es nicht besser geworden. Für die Familie habe sie gegen einen Ehrenkodex verstoßen.

Deswegen fürchte sie Verfolgung durch ihre Familie und als geschiedene Frau mit westlichem Lebensstil auch durch die irakische Gesellschaft.

Sie wurde in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört und erklärte, vor ihrer Flucht von Vater und Bruder zwei Wochen in einem Zimmer eingesperrt worden zu sein, weil sie die Regeln des Islams nicht einhalte und sich zu westlich benehme. Durch die unzureichende Flüssigkeitsversorgung während der Zeit, sei auch ihr Nierenleiden entstanden. Dies habe sie wegen der anwesenden `Araber´ während der Anhörung nicht gesagt. Außerdem würden sie und ihr Mann Kontakt zu Arabern in Deutschland meiden und hätten sich vom Islam losgesagt.

Das VG hält die Angaben der Klägerin für glaubhaft und erklärt, die Klägerin habe bei einer Rückkehr in den Irak mit Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß der §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz Asylgesetz (AsylG) zu rechnen. Da ihr syrischer Mann nicht in den Irak einreisen dürfte, sei sie alleinstehend und gelte als geschiedene Frau, ohne auf den Schutz (männlicher) Familienangehöriger zurückgreifen zu können.

Das Gericht habe nach dem persönlichen Eindruck der Klägerin in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass diese eine in ihrer Identität stark weltlich und westlich geprägte Frau sei. Die Angst der Klägerin vor Verfolgung durch die Familie oder massiven Einschränkungen in ihrer Lebensführung hält es für berechtigt. Dies decke sich mit den Erkenntnisquellen des Gerichts. Die darin geschilderten Verfolgungshandlungen gegenüber westlich geprägten Frauen stellten schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen dar. Das Gericht führt hierzu unter Berufung auf weitere Rechtsprechung (u.a. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. Juni 2017) bzw. Länderberichte zahlreiche Beispiele auf.

Insbesondere alleinstehende Frauen wie die Klägerin ohne familiären Schutz in prekärer wirtschaftlicher Situation liefen Gefahr, Opfer körperlicher Gewalt oder von Menschenhandel zu werden. Das Gericht macht hier umfassende Ausführungen zur Situation der irakischen Frauen. Insbesondere alleinstehende und/oder geschiedene Frauen würden diskriminiert und seien gefährdet, auch Ehrenmorde würden laut Lagebericht des Auswärtigen Amtes von 2021 immer noch praktiziert. Frauen, die sich westlich kleideten, seien hier zusätzlich gefährdet.

Verfassungsrechtlich sei zwar eine Gleichberechtigung vorgesehen, dies würde aber durch Art. 41 der irakischen Verfassung eingeschränkt, in dem bestimmt sei, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürften. Auch fände sich auf der einfachgesetzlichen Ebene keine Umsetzung, was zu massiven Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten von Frauen führe, da eine Frau ohne männliche Zustimmung z.B. keine Papiere wie Reisepass oder andere Dokumente beantragen könne, die für die Inanspruchnahme bestimmter Dienstleistungen oder Unterstützungen etc. erforderlich seien. 

Hierin sei eine Verfolgungshandlung gem. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu sehen.

Diese sei auch frauenspezifisch. Dies gelte, auch wenn sie nicht unmittelbar an das Geschlecht anknüpften, sondern wie bei der Klägerin an ein von den herrschenden sozialen, kulturellen und religiösen Vorstellungen abweichendes Verhalten anknüpften. Die Verfolgung ginge zwar von nichtstaatlichen Akteuren aus, staatlicher Schutz sei aber nicht zu erwarten. Auch drohe die Verfolgung im ganzen Irak, so dass es keine innerstaatliche Fluchtalternative gäbe.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_berlin_20_01_2022 (PDF, 133 KB, nicht barrierefrei)

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