VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.3.2023
Aktenzeichen 10 A 35/23

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Zwangsheirat bedrohte Türkin; interessante Ausführungen zur Frage der Voraussetzungen einer asylrelevanten `sozialen Gruppe´, Anknüpfung der Verfolgung allein an Geschlecht ausreichend; fundierte Auseinandersetzung mit der Situation der Frauen in der Türkei und der Nichteinhaltung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), einer türkischen Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Frau war 2020 nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt. In ihrer Anhörung hatte sie angegeben, dass sie zur Beilegung eines Streits ihrer Familie mit einer anderen, mit einem Mann der anderen Familie zwangsverheiratet werden sollte. Wegen ihrer Weigerung sei sie von ihrem Vater bedroht und geschlagen worden und deswegen geflohen. Der Vater wolle sie nun umbringen.

Das BAMF hatte den Antrag abgelehnt und die Abschiebung angedroht.

Das Verwaltungsgericht sieht die Voraussetzung für eine Flüchtlingsanerkennung gegeben. Die Kammer glaubt den Angaben der Klägerin und dass sie von Zwangsverheiratung bedroht sei und sieht eine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. mit § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz Asylgesetz (AsylG) gegeben. Die Kammer setzt sich dabei detailliert mit der umstrittenen Frage zum Vorliegen einer sozialen Gruppe aufgrund geschlechtsbezogener Aspekte auseinander. Sie führt aus, dass § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG von Art. 10 der sog. Qualifikations-Richtlinie (RL 2011/95) abweiche bzw. darüber hinausgehe.  Während nach der Richtlinie bei der Prüfung des Vorliegens einer sozialen Gruppe geschlechtsbezogene Aspekte lediglich angemessen berücksichtigt werden sollten, gäbe der letzte Halbsatz des § 3 Abs.1 Nr. 4 AsylG ausdrücklich vor, dass eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe auch gegeben sei, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpfe. Der Gesetzgeber habe damit bewusst weiter gehen wollen, als in den Mindeststandards der Richtlinie vorgegeben und die günstigere Regelung des § 60 AufenthG a.F. beibehalten wollen. Verfolgung einer sozialen Gruppe läge danach auch vor, wenn die Bedrohung von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Freiheit ausschließlich an das Geschlecht anknüpft. Der Gesetzgeber habe durch den letzten Halbsatz eine Sonderregelung für an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung geschaffen, die weitere Voraussetzungen (wie Abgrenzbarkeit von der übrigen Gesellschaft) nicht erforderlich machten.

Das VG legt sodann dar, warum die Klägerin in der Türkei keinen staatlichen Schutz zu erwarten habe und macht dabei unter Bezug auf verschiedene Quellen sehr umfassende Ausführungen zur Situation der Frauen in der Türkei. So gäbe es zwar Gesetze zur Gleichberechtigung oder gegen Gewalt gegen Frauen, deren Umsetzung sei jedoch sehr lückenhaft. Zwangsheirat sei z.B. nicht strafbar. Auch die Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen habe festgestellt, dass die Türkei ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen nicht gerecht wird.

Das VG stellt sehr detailliert dar, wie sich u.a. mit dem Austritt der Türkei aus der sog. Istanbul-Konvention die Situation von Frauen und Mädchen verschlechtert habe.

Die Türkei sei zwar auch anderen internationalen Menschenrechtsabkommen wie dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) verpflichtet, es gäbe aber massive gesellschaftliche und politische Widerstände in der Umsetzung.

In der Praxis gäbe es weiter Kinder- und Zwangsehen sowie Femizide. Straftaten gegen Mädchen und Frauen würden kaum verfolgt.

Es gäbe nur unzureichend Unterstützungsstrukturen wie Beratungsstellen oder Frauenhäuser.

Ob Frauen dort effektiven Schutz erhalten könnten, sei im Einzelfall zu prüfen.

Für die Klägerin stellt die Richterin fest, dass zwar nicht davon auszugehen sei, dass ihr Vater sie in der Türkei finden könne, es sei ihr aber voraussichtlich nicht möglich, an einem anderen Ort der Türkei mithilfe der kaum vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten ein existenzsicherndes Leben aufzubauen, so dass sie gezwungen wäre, sich an ihre, sie bedrohende Familie zu wenden.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_schleswig_holstein_21_03_2023 (PDF, 657 KB, nicht barrierefrei)

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