LSG Sachsen, Urteil vom 6.12.2022
Aktenzeichen L 4 AS 939/20

Stichpunkte

Entscheidung im Sozialgerichtsverfahren über Leistungen nach dem SGB II; Anspruch von Unionsbürger*innen; Verlängerung des Arbeitnehmerinnenstatus um Zeit des Mutterschutzes; fiktiver Anspruch auf ein humanitäres oder familiäres Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht Sachsen (LSG) entscheidet in seinem Urteil, dass die Arbeitnehmerinneneigenschaft in der Zeit des Mutterschutzes fortwirkt und Unionsbürgerinnen nicht von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ausgeschlossen sind.

Die Klägerin ist Unionsbürgerin und ist mit einem geduldeten Drittstaatsangehörigen zusammen, aber nicht verheiratet. Beide haben ein gemeinsames Kind. Vor ihrer Schwangerschaft hatte die Klägerin weniger als ein Jahr lang eine Beschäftigung ausgeübt; während ihrer Schwangerschaft wurde sie rechtswidrig gekündigt. Nach sechs Monaten stellte das Jobcenter alle Zahlungen ein. Die Klägerin erhob zunächst Widerspruch und schließlich Klage gegen den Ablehnungsbescheid vor dem Sozialgericht Dresden. Das Sozialgericht verpflichtete den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II. Hiergegen legte der Beklagte Berufung beim LSG ein.

Unionsbürger*innen, die weniger als ein Jahr in Deutschland gearbeitet haben, stehen nicht automatisch Leistungen nach dem SGB II zu. Stellt das zuständige Jobcenter aber fest, dass der*die Unionsbürger*in seine*ihre Arbeit vor dem Ablauf von 12 Monaten schuldlos verloren hat, so besteht ein Leistungsanspruch. Der Arbeitnehmer*innenstatus wirkt fort. Dieser Leistungsanspruch endet normalerweise nach sechs Monaten. Das LSG stellt hier fest, dass der Ablauf des sechs Monate bestehenden, fortwirkenden Arbeitnehmerinnenstatus während der Dauer der unionsrechtlichen Mutterschutzzeit (inkl. Schutzfristen bzw. Beschäftigungsverboten) gehemmt wird. Das LSG stellt zudem fest, dass auch während des Mutterschutzes ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II besteht.

Das LSG führt zur Begründung aus, dass die sechsmonatige Frist nach den unionsrechtlichen Bestimmungen keine Obergrenze, sondern vielmehr eine Untergrenze darstellt. Der Ablauf der sechsmonatigen Frist setzt voraus, dass der*die Betroffene zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht. Bei Unfall, Krankheit oder während der unionsrechtlichen Mutterschutzzeit ist dies aber nicht der Fall.
Außerdem nimmt das LSG Bezug auf Art. 14 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sowie auf Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Art. 6 Abs. 5 Grundgesetz (GG). Würde der Ablauf der Frist während des Mutterschutzes nicht gehemmt, würden schwangere Unionsbürgerinnen allein durch den Umstand, dass sie schwangerschaftsbedingt die Ausübung ihrer Berufstätigkeit berechtigt aussetzen können, hinsichtlich der Arbeitnehmer*inneneigenschaft gegenüber Männern diskriminiert. Denn im Ergebnis würden schwangere Personen dann nur verkürzt von der Arbeitnehmer*inneneigenschaft profitieren. Damit würde letztlich ihre Möglichkeit, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten und eine neue Beschäftigung aufzunehmen, rechtswidrig beschnitten.

Schließlich geht das LSG auf die Leistungsberechtigung der Klägerin nach Ablauf des fortwirkenden Arbeitnehmer*innenstatus ein. Es stellt fest, dass in diesem Fall auch im Anschluss ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II besteht. Jedenfalls fiktiv bestünde ein über die Arbeitssuche hinausgehendes Aufenthaltsrecht, nämlich ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen nach § 25 Abs. 4 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) (i.V.m. § 11 Abs. 14 FreizügG). Der Vater des Kindes ist geduldet und ‘[…] die Verneinung eines gemeinsamen Aufenthaltsrechts [hätte] den tatsächlich gelebten Familienbund zerrissen und dem Kläger zu 2 entweder die Mutter oder den Vater entzogen, die sich tatsächlich um dessen Erziehung und Pflege kümmerten. Dies widerspräche Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG.‘ Das LSG erläutert, dass das Jobcenter hier eine Prüfpflicht trifft. Es reicht im Falle von Unionsbürger*innen aus, wenn theoretisch die materiellen Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts nach dem Aufenthaltsgesetz vorliegen, auch wenn ein solcher Aufenthaltstitel nicht erteilt worden ist, siehe auch das Urteil des LSG Sachsen vom 10.05.2021.

Kernpunkte

Anspruch von Unionsbürger*innen auf Leistungen nach SGB II; Verlängerung des Arbeitnehmerinnenstatus um Zeit des Mutterschutzes; fiktiver Anspruch auf humanitäres oder familiäres Aufenthaltsrecht nach AufenthG

 

Entscheidung im Volltext:

LSG_06_12_2022 (PDF, 468 KB, nicht barrierefrei)

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